NS-Zeit: In der Todeszone
Timothy Snyder über die Spuren der Vernichtung, die Hitler und Stalin durch Osteuropa zogen.
Am 23. August 1939 wurde der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt verhandelt und kurz nach Mitternacht unterzeichnet. Europa wurde in „Interessensphären“ geteilt. Die gedachte Grenze verlief vom Baltikum mitten durch Polen und weiter nach Süden bis zum Schwarzen Meer. Vor allem östlich dieser „Molotow-Ribbentrop-Linie“ erstreckt sich, was Timothy Snyder „Bloodlands“ nennt, das Blutige Land: Polen, Weißrussland und die Ukraine.
Der Wortschatz für die politischen Verbrechen des 20. Jahrhunderts ist durch den Historiker um einen Begriff reicher geworden. „Bloodlands“ bezeichnet ein Gebiet Europas, das aus dem europäischen Bewusstsein bis heute ausgeblendet blieb. Erst jetzt, im Zuge der Hinwendung zu geografischen Bedingungen und Bedingtheiten der Geschichte, wird dieses Areal als historischer Raum erkannt. Weithin deckungsgleich ist es mit jenen Ländereien, die die deutsche Wehrmacht bis 1941/42 eroberte und verwüstete.
Aber, und das hebt Snyders soeben in deutscher Übersetzung erschienenes Buch „Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin“ heraus: Es geht nicht um eine weitere Darstellung des Unternehmens „Barbarossa“. Snyder macht eine andere Rechnung auf, von der Chronologie her wie von der Zahl und Zusammensetzung derer, die den mörderischen Konflikten in diesem Großraum zum Opfer fielen. Die Bloodlands reichen zurück in die Auflösung des Zarenreichs und des Bürgerkriegs zwischen Roten und Weißen mit seinen Millionen Toten.
Das war nur das Vorspiel. Dann werden die Bloodlands zum Schauplatz der von der KPdSU inszenierten, künstlichen Hungersnot der Ukraine Anfang der dreißiger Jahre mit mindestens fünf Millionen Opfern. Sie erleiden den Großen Terror Stalins mit seiner endlosen Zahl von Verhaftungen, Deportationen und Erschießungen, bis sie schließlich zum Schauplatz der blutigsten Kapitel des Zweiten Weltkriegs werden, mit wiederholten Frontverschiebungen zwischen Wehrmacht und Roter Armee. Da sterben in den Bloodlands nicht nur Soldaten und Zivilisten, so viele es auch sind, sondern da ereignen sich gleichzeitig und untrennbar vermischt Terror und Verbrechen, kämpfen Partisanen und verhungern Millionen von Kriegsgefangenen. Und es stirbt die überwiegende Zahl der jüdischen Opfer des Holocaust – nicht in den Vernichtungslagern, sondern durch Massentötungen vor Ort, ausgeführt von den SS-Einsatzgruppen und ihren Helfern nichtdeutscher Nationalität.
Alles in allem, schätzt der an der renommierten Yale-Universität lehrende Snyder, sind in den Bloodlands zwischen 1933 und 1945 rund 14 Millionen Menschen gewaltsam ums Leben gekommen. Es ist dies die Zeitspanne, in der Hitler und die NSDAP in Deutschland herrschten, zugleich aber die Sowjetunion unter Stalin ihre gewaltsame Umwälzung vom Agrar- zum Industriestaat erfuhr.
Auch hier geht es Snyder nicht um eine weitere Darstellung des Diadochenkampfes zwischen den beiden Diktatoren. Sondern es geht um ihr mörderisches Ringen auf eben diesem von Gewalt durchpflügten Territorium. „Stalins Verbrechen werden oft mit Russland assoziiert und die Hitlers mit Deutschland, aber der mörderischste Teil der UdSSR war ihre nichtrussische Peripherie, und die Nazis mordeten vor allem außerhalb Deutschlands.“ Und, fährt Snyder fort: „Die Lager gelten als Inbegriff der Schrecken des 20. Jahrhunderts, aber die meisten Opfer von Nationalsozialismus und Stalinismus starben nicht in Konzentrationslagern.“
Hierzulande, wo eine unumstößliche Hierarchie der Verbrechen gängig ist, wird ein derartiger Vergleich nicht unbedingt auf Zustimmung stoßen. Bereits anlässlich der amerikanischen Originalausgabe gab es Kritik an der Etablierung einer geografischen Region unter Einschluss beider Systeme von Bolschewismus und Nationalsozialismus.
Nicht, dass Snyder die Unterschiede beiseitewischte. Doch er vergleicht. So heißt es über die deutschen Kriegsgefangenenlager, in denen mehr als drei Millionen Rotarmisten umkamen: „Die Prinzipien im sowjetischen Gulag nachahmend und zugleich radikalisierend, gaben die Deutschen denen, die nicht arbeiten konnten, weniger Nahrung als den anderen, womit sie den Tod der Schwächeren beschleunigten.“ Und nochmals ein Vergleich: „Wie die ukrainischen Kommunisten 1933 führten deutsche Offiziere 1941 eine Politik des Hungers aus.“
Eine Ursache für die Politik des Verhungernlassens liegt in der Radikalisierung des Krieges. Die schnelle Aufeinanderfolge der Gewaltherrschaft erst des sowjetischen NKWD, dann der deutschen SS zeitigte eine enorme Brutalisierung. Abziehende NKWD-Einheiten ermordeten auf die Schnelle ihre eben erst gemachten Gefangenen zumeist aus den Eliten der unterjochten Länder, vor allem Polens. Die nachrückenden deutschen Einheiten gaben allen Ernstes vor, „Rache“ an den „jüdischen Bolschewisten“ zu üben, und wurden eben darum von der lokalen Bevölkerung unterstützt.
Die anfänglichen Pläne Himmlers und der SS zur Deportation der Juden in den asiatischen Osten der Sowjetunion erwiesen sich mit dem Misserfolg der „Blitzkriegs“-Strategie Ende 1941 als undurchführbar. Snyder deutet den nunmehr planmäßig betriebenen Völkermord als Folge des schwindenden Kriegsglücks. Der Nahrungsmangel im Winter 1941/42 zeichnete sich ab. Die kriegsgefangenen Sowjetsoldaten allerdings ließ die Wehrmachtsführung von vorneherein verhungern, um die eigenen Truppen aus den besetzten Gebieten ernähren zu können.
Die Fakten, die Snyder heranzieht, sind, für sich betrachtet, bekannt, die Umstände erforscht. Seine Leistung liegt darin, eben diese Fakten neu in Beziehung zu setzen. Es drängt sich die Parallele zum Historikerstreit von vor 25 Jahren auf. Damals ging es um die Frage, ob die beiden großen Diktaturen verglichen werden können und dürfen, zumal hinsichtlich Terror und Mord. Im engeren Sinne ging es um die Erstmaligkeit der Verbrechen und einen verborgenen „kausalen Nexus“ zwischen Gulag und KZ.
Einen solchen kausalen Bezug – weil Stalin Terror anordnete, folgten ihm die Nazis präventiv aus Furcht, selbst Opfer zu werden – verneint Snyder ausdrücklich. Er verweist allein auf die zeitliche Abfolge. „In der ersten Periode 1933–38 beging die Sowjetunion fast alle Massenmorde, in der zweiten während des Hitler-Stalin-Pakts (1939–41) war die Zahl der Morde auf beiden Seiten ausgeglichen. Zwischen 1941 und 1945 waren dann die Deutschen für fast alle politischen Morde verantwortlich.“ Eben diese Zusammenschau eröffnet neue Einsichten. Der 41-jährige Snyder, von älteren Kontroversen unbelastet, arbeitet die heillose Durchtränkung des Bloodlands-Gebietes mit staatlicher Gewalt heraus, um die bestürzende Selbstverständlichkeit noch der schlimmsten Untaten überhaupt plausibel zu machen.
Daraus folgert Snyder aber ein Weiteres. „Der Massenmord in Europa wird meist mit dem Holocaust assoziiert, und der Holocaust mit schnellem industrialisiertem Töten.“ Die Analogie von kalter Technik und seriellem Tod in den Vernichtungslagern ist geläufig. Doch „an den Schauplätzen der deutschen und sowjetischen Morde waren die Methoden eher primitiv“, muss anhand des erdrückenden Materials an nüchternen Zahlen wie an bewegenden Augenzeugenberichten konstatiert werden: „Von den vierzehn Millionen Zivilisten und Kriegsgefangenen, die zwischen 1933 und 1945 in den Bloodlands ermordet wurden, starb über die Hälfte, weil man ihnen die Nahrung verweigerte.“ Mit Blick auf das Schicksal der Bloodlands folgt „bei der Opferzahl nach dem Hungertod die Erschießung, danach die Vergasung“.
Damit wird der NS-Völkermord an den Juden nicht relativiert, sondern vielmehr als europäisches Ereignis und Erbe neu gewichtet. „Im Osten seiner jüdischen Besonderheit beraubt und im Westen seiner Geografie entkleidet, wurde der Holocaust nie ganz Teil der europäischen Geschichte.“ Er konnte es nicht werden, weil der Raum, in dem der millionenfache Tod sich nicht nur ereignete, sondern der ihn überhaupt ermöglichte, außerhalb des europäischen Bewusstseins lag und liegt. „Die Heimatländer der Opfer lagen zwischen Berlin und Moskau“, insistiert darum Snyder, „sie wurden zu den Bloodlands nach dem Aufstieg Hitlers und Stalins.“ Die Opfer „starben als Resultat einer Interaktion beider Systeme“. Diese Interaktion ist es, die beide Diktaturen untrennbar verbindet: in ihrem mörderischen Nach- und Miteinander.
– Timothy Snyder: Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin. Aus dem Englischen von Martin Richter. C. H. Beck Verlag, München 2011.
523 Seiten, 29,95 Euro.
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