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Der französische Schriftsteller Patrick Modiano
© Catherine Hélie/ Editions Gallimard/Hanser

Patrick Modianos Roman „Der Horizont“: In der Schwebe

Erinnerung als süßer Selbstzweck: Patrick Modianos traumverlorener Roman „Der Horizont“.

Man gleitet sofort hinein, in den Modiano-Ton, in diesen samtig-melancholischen Strom, und wird vom Autor mit fürsorglicher Unerbittlichkeit auch gleich tiefer getaucht, ins einerseits kristalline, andererseits recht verschwommene Erinnerungsfluidium der „ewigen Gegenwart“. Bosmans heißt die männliche Hauptfigur in dem neuen, „Der Horizont“ betitelten Roman von Patrick Modiano, diesem späten Bruder Emanuel Boves. Aber die Bezeichnung Hauptfigur führt in die Irre.

Bosmans ist, wie die meisten Erfindungen des französischen Autors, ein Somnambuler, verloren im Halbschlafmodus. Er dachte in „letzter Zeit“ an „flüchtige Begegnungen“ aus seinem Leben, heißt es. „Das alles gehörte zu einer fernen Vergangenheit, doch weil diese kurzen Sequenzen nicht verbunden waren mit dem Rest seines Lebens, blieben sie in der Schwebe ...“ Erinnerungen, die mit dem Rest des Lebens nicht verbunden sind, abgeschnitten, isoliert. Man denkt an Traumata, an dramatische Erlebnisse, die verdrängt werden mussten und nun über die Erinnerung zu einer Veränderung oder Befreiung führen. Doch mit solch konventionellen Erwartungen kommt man bei Modiano nicht weit. Erinnerungen führen bei dem 1945 geborenen Autor grundsätzlich nicht zu Erkenntnis oder Reifung oder zu einem anderen Verhältnis zur Welt.

Für Patrick Modiano ist Erinnerung ein süßer Selbstzweck, wie kindliches Vorsichhinsummen, ein Beruhigungsritual. „Er würde nicht aufhören, sich Fragen zu stellen, und er würde nie eine Antwort bekommen. Diese Bruchstücke werden für ihn immer rätselhaft bleiben.“ Leser, sagt Modiano mit freundlicher Gleichgültigkeit gleich zu Beginn, so was wie Handlung, Story, Plot suchst du vergeblich!

Eine Handlung oder ein Plot? Fehlanzeige!

Der Leser lässt sich freilich widerstandslos mit Bosmans durch seine Vergangenheit treiben. Hier taucht ein Halbstarker namens Mérovée auf, dort geht eine seltsame Frau den jungen Bosmans um Geld an und behauptet, seine Mutter zu sein. Ein junges Mädchen immerhin, Margaret Le Coz, erweist sich als weniger flüchtig. Vor 30 oder 40 Jahren (aber was spielen Zeiträume für eine Rolle?), waren sie mal ein Paar, liefen unschuldig nebeneinander her durch schattenlose Tage, mit dem Gefühl, verfolgt zu werden. Bosmans, der in einer Buchhandlung arbeitete, von besagter Mutter/Domina; Margaret, die auf die Kinder eines dubiosen Arztes aufpasste, von einem pockennarbigen Mann.

Patrick Modiano bildet mehr den Prozess der Erinnerung ab, als dass er eine Geschichte entwickeln würde. Seine Kunst besteht darin, Zusammenhänge wie Wolkenformationen zusammenwachsen zu lassen, um sie, sobald sich eine klare Gestalt ergibt, wieder zu verwischen, indem er innerhalb eines Satzes Zeit und Bezugsorte ändert oder von der Handlungsebene auf die selbstreflexive Ebene des „Ich-weiß-auch-nicht-weiter“ springt. So bleibt das Geschehen tatsächlich in der Schwebe und die Figuren erscheinen trotz ihrer plastischen Beschreibungen ungreifbar, im rätselhaften Licht einer diffusen Bedrohung. Ganz leicht inszeniert Modiano den Zustand einer süßen Verlorenheit, in dem die Freude über das Ankommen und die Trauer über den Abschied ununterscheidbar verschmolzen sind.

Hundert Seiten perlt der Text so beglückend vor sich hin, dann geht ihm die Luft aus. Denn was ist nun mit dem Pockennarbigen und der erpresserischen Mutter? Man hat den Eindruck, dass sie ihr rätselhaft-bedrohliches Herumstreifen langsam satt haben und selbst auf die Enthüllung ihres Geheimnisses drängen. So etwas Profanes will Patrick Modiano natürlich nicht. Deshalb reagiert er immer hektischer mit Rückblenden und irritierenden Übergängen, so dass der Leser den Spaß an den zarten Kunstnebelgespinsten vorübergehend verliert.

Das Ende wiederum ist von zarter Poesie. Als älterer Herr spaziert Bosmans durch Berlin zu einer Kreuzberger (hier im Buch leider mit einer Postleitzahl und einer Telefonnummer aus dem Prenzlauer Berg versehenen) Buchhandlung in die Dieffenbachstraße. Was Bosmans plötzlich in Berlin macht? Was für eine kleingeistige, traumfremde Frage.

Patrick Modiano: Der Horizont. Roman. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. Hanser Verlag, München 2013.176 Seiten, 17, 90 €.

Andreas Schäfer

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