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Thomas Mann mit Frau Katja (Mitte) und Tochter Erika auf einer Gangway eines Flugzeugs in New York.
© dpa

Biografien der Familie Mann: In den Stollen des Zauberbergs

Die "amazing familiy": Neue Bücher und Dokumente zu Thomas Mann untersuchen die tragischen Geschicke seiner Familie 60 Jahre nach seinem Tod.

Seit Heinrich Breloers dramatischer Fernsehdokumentation „Die Manns. Ein Jahrhundertroman“ (2001) ist die Flut von Mann-Literatur drastisch angestiegen. Anlass sind meist Jubiläen. So wird auch jetzt zu Thomas Manns 140. Geburtstag und 60. Todestag eine ganze Palette angeboten: zwei neue Familienbiografien, ein E-Book mit „Zeit“-Artikeln und eine CD-Sammlung mit Originaltönen des „Zauberers“.

Die Verlage kalkulieren mit der andauernden Sehnsucht nach dem deutschen Glück im Unglück, das die Manns in idealer Rollenverteilung zu verkörpern scheinen. Wie in den „Buddenbrooks“ dargestellt, mischen sich in einer dramatischen Beziehungsgeschichte der Generationen, Geschwister und Geschlechter bürgerliche Verlusterfahrungen mit extremen künstlerischen Sehnsüchten und Leiden. „Eine deutschere Geschichte als die ,Buddenbrooks’ gibt es wohl nicht“, begründete der Schauspieler Armin Mueller-Stahl seine Mitwirkung in der Romanverfilmung Breloers.

Eine ähnliche Einschätzung hatte offenbar auch dazu geführt, dass Thomas Mann 1929 den Nobelpreis nicht für den „Zauberberg“, sondern für die „Buddenbrooks“ erhielt. Im gleichen Jahr ließ eine Zeitungskarikatur Thomas, Heinrich, Klaus und Erika als Familienkollektiv auf dem Olymp von Weimar thronen. In der NS-Zeit wurden die Manns verhöhnt und vertrieben – waren im amerikanischen Exil aber als amazing family schnell wieder präsent. Im geteilten Nachkriegsdeutschland wurde Thomas vom Westen und Heinrich vom Osten vereinnahmt – doch der Deutungsstreit über den Familienmythos blieb dem Feuilleton, wie jetzt die „Zeit“-Edition anschaulich dokumentiert, über Jahrzehnte erhalten.

Der Bruderzwist im Hause Mann

Obwohl inzwischen zahlreiche Tagebücher, Briefsammlungen und Lebensbeschreibungen die Regale füllen, wird Manfred Flügges „Das Jahrhundert der Manns“ als „erste Familienbiografie“ angekündigt, und im Klappentext zu Tilmann Lahmes „Die Manns“ heißt es: „So wurde ihr Leben noch nie erzählt.“ Erfährt der Leser also wirklich Neues? Bei Flügge reicht das „Jahrhundert“ vom Erscheinen der „Buddenbrooks“ bis zur Ausstrahlung von Breloers Fernsehserie. Durch Einbeziehung der Familie Pringsheim nimmt er mehr als zwei Dutzend Personen ins Visier und versucht, ihr Verhältnis zueinander und zu ihrer Epoche darzustellen – als „einen Königsweg zum Verstehen von Gesellschaft und Geschichte in Deutschland“.

Doch eine strukturelle Verbindung des Nebeneinanders von so vielen Charakteren und Ereignissen gelingt ihm eigentlich nur im Abschnitt über den „Bruderzwist im Hause Mann“. Hier überlagern sich nachvollziehbar die Sphären der Ideen und der Familie, und der Autor kann aufzeigen, wie sich in den unterschiedlichen Persönlichkeiten und Auffassungen von Thomas und Heinrich Mann die Zerrissenheit der europäischen Kultur widerspiegelte. Leider haben sich in Flügges Darstellung etliche Fehler eingeschlichen, sodass er sich genötigt sah, auf seiner Homepage ein Errata-Forum einzurichten.

"Die Manns" von Tilmann Lahme.
"Die Manns" von Tilmann Lahme.
© S.Fischer/promo

Lahme verzichtet ganz auf die Darstellung des Bruderkonfliktes und der Rolle von Thomas Mann als begeisterter Kriegsjubler. Seine „deutsche“ Familiengeschichte beginnt nach 1922, also im Geiste der gewendeten „Republikaner“. Thomas Mann selbst erklärte allerdings damals, dass er „nichts“ zu „widerrufen“ habe und bekannte sich eigentlich erst als „Amerikaner“ zu den Werten der europäischen Zivilisation – wobei die Selbstzweifel („Bruder Hitler“) blieben.

So handelt es sich bei Lahmes Buch im Wesentlichen um die amerikanische Exilchronik von „Thomas Mann und den Seinen“, in dieser engen Perspektive abgesegnet vom pater spiritualis Marcel Reich-Ranicki. Die Reduzierung des handelnden Personals war übrigens schon ein dramaturgischer Trick in Breloers Fernsehdokumentation. Auch Lahmes Text liest sich streckenweise wie ein Drehbuch. Der Schreibtisch des aus Deutschland vertriebenen Nobelpreisträgers steht bildsymbolisch im Zentrum. Während Bruder Heinrich „körperlich und geistig abbaut“, folgt Thomas Mann weiter seinem begnadeten Zwang zur Produktion deutscher Nationalliteratur – unterbrochen von Vortragsreisen, Rundfunkreden und sporadischen Belästigungen durch die „Seinen“.

Das nationaltypische Patriarchat

Die Kinder der amazing family haben, abgesehen von der beständigen „Einserschülerin“ Elisabeth, abwechselnd gute oder schlechte Launen und befinden sich fast immer auf der An- oder Abreise. Klaus „läuft tief verstimmt durch die Straßen von New York“, Erika will ihr Kabarett „groß herausbringen“, Michael „prüft“ zweifelnd sein „musikalisches Talent“, während Monika „die Zuversicht“ vollends „abhanden gekommen ist“. Allein Golo hält von Anfang an einen vernünftigen „Sicherheitsabstand zur Familie“. Zum Glück steuert Katia, „die Starke und Unerschrockene“, das Familienschiff sicher. Wie bei Breloer gibt es auch hier „keinen moralischen Sieger“. Doch was ist mit den Opfern? Gab es keine Täter?

Auch nach der Lektüre der neuesten Familienbiografien bleibt man geneigt zu vermuten, dass es noch dunkle Geheimnisse in der Mann’schen Familiengeschichte gibt. Heinrich Mann wollte seinen 1925 erschienenen Roman „Kopf“ ursprünglich sogar „Die Blutspur“ nennen. Dabei meinte er keineswegs nur die kriegerischen Verstrickungen des deutschen Kaiserreichs, sondern vor allem die Ödipustragödie, „die durch das gesamte (eigene) Leben“ führe. Allerdings hat kein Literaturdetektiv es bisher vermocht, die mythischen Spuren von frauenmörderischen „Blaubartzimmern“ zu konkretisieren. Immerhin enthält Marianne Krülls umstrittene Familienstudie „Im Netz der Zauberer“ (1992) bereits ein Psychogramm, das über fünf Generationen reicht. Dabei geht es nicht nur um „Ermittlungen“ in den Suizidfällen Carla (1910), Julia (1927) oder Klaus (1949), die Autorin sieht in den Vätern und Brüdern der jeweiligen Mann-Generationen generell ein nationaltypisches Patriarchat, das Opfer für die Kunst benötigte.

Man hat ihr vorgeworfen, aus dem Testament des Senators Thomas Heinrich Mann eine „Verfluchung“ abzuleiten, die spätere Künstlerexistenzen der Familie dramatisch beeinflussen sollte. Doch verleihen Entstehung und Inhalt der „Buddenbrooks“ ihrer Vermutung nicht einen gewissen Rückhalt? Die Wahnvorstellungen, Nervenleiden und Boheme-Neigungen des Christian Buddenbrook zum Beispiel spiegeln nicht nur Nietzsches Verfallspsychologie, sondern auch die Krankenakte des „Friedel“ Mann, die der Neffe Thomas gegen seinen Willen für den Roman ausgebeutet hat.

War er das erste Familienopfer? Mit den Problemen solcher Schattenexistenzen beschäftigen sich die neuen Bücher kaum. Flügge lehnt sich im Schlusskapitel „entspannt“ zurück, raucht mit Thomas Mann eine Maria-Mancini-Zigarre und erklärt, dass das „Glück“ und „Erbe“ nun für „ein neues Jahrhundert gesichert“ seien.

Dabei geht es nicht nur an Jubiläumstagen darum, die Geschichten der Familie Mann (auch die aus früheren Generationen) miteinander zu vergleichen. Nur so lässt sich der Mann-Komplex und seine Verknüpfung mit den Katastrophen der Zeitalter ergründen.

Manfred Flügge: Das Jahrhundert der Manns. Aufbau, Berlin 2015. 416 S., 22,95 €.

Tilmann Lahme: Die Manns. Geschichte einer Familie. S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 448 Seiten, 22,99 €.

Thomas Mann. Sein Leben – seine Familie – sein Werk. ZEIT-Ebook, epubli, 7,99 €.

Thomas Mann: Die große Originalton-Edition. DHV Hörverlag, München 2015. 36 CDs, 49,99 €.

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