Familienroman: In den Fängen des Jahrhunderts
Ungeheure Wucht: Der große bayrische Theater- und Filmschauspieler Josef Bierbichler erzählt in seinem furiosen, erfahrungssatten Roman-Debüt "Mittelreich" von der Fülle des Lebens - und der Fülle des Scheiterns.
Ein Mann steht einsam in Sturm und Eis: „Ihr Welten endet euren Lauf! Ewge Vernichtung, nimm mich auf!“ Doch das ist nicht Richard Wagners „Fliegender Holländer“, sondern Josef Bierbichlers trotzig bangender Bayer, der Seewirt Pankraz. Und in dieser Faschingsfebruarnacht des Jahres 1954 ereignet sich ein Wunder vorm Herrn. Erst feiern die anwohnenden Bauern, Kriegsflüchtlinge und Nachkriegsgewinnler, die bayrischen Eingeborenen und die preußischen Zugezogenen in den Masken des Vergangenen oder des Kommenden. Im Seewirtshaus tanzen und saufen sie als „Negerhäuptling, Wilderer, Araberin, Haberfeldtreiber, Sennerin, Jude, Hausierer, Feine Dame, Wildkatze, Hitler und so weiter“. Aus den alten Mördergruben werden da neue Herzchen, die freilich – wären der heimische Kirchturm nicht so nah und die Adenauerzeit und der Katholizismus nicht so übermächtig – auch gern ein wenig huren und hetzen täten. Aber Moral ist Moral und Schnaps ist Schnaps – und das Bier fließt beim Seewirt in betäubenden Strömen.
Draußen jedoch klirren ganz hölderlinisch die Fahnen, das Eis auf dem See droht im nächtlichen Orkan zu reißen, und die sich auftürmenden, fortwehenden Schollen würden dann Menschen, Tiere, Gehöfte zertrümmern. Das sieht der Pankraz, erkennt es draußen in der Natur und drinnen in Bierbichlers großem bayrischem Heimat- und Deutschlandroman „Mittelreich“. Erst treibt der Seewirt die Faschingsgäste aus dem Ballsaal nach Hause, dann verzweifelt er vor den höheren Gewalten, denn der Sturm hat das gesamte Dach seines Gasthofs und der Wohnungen für die Familie und das Gesinde fortgerissen.
Also klagt der Seewirt seiner Frau spätnächtlich sein Leid und dass sie, wenn es jetzt noch reinschneie oder reinregne, keine Versicherung hätten. Die Frau aber schickt den Jammermann, der besser an die Sicherheit seiner und ihrer Kinder als an sein Geld denken solle, wieder hinaus. Und siehe da, der gottgläubige, doch gegen sein Schicksal plötzlich aufbegehrende Wirt, der eigentlich lieber Künstler geworden wäre, er singt nun an gegen die feindliche Natur – und der Sturm legt sich, die Macht der Musik, der Wagner-Klänge, ist auf ein Mal stärker als die himmlisch- höllischen Wetter. Gerettet!
Das ist, in kraftvoll realistischer, manchmal auch kleistisch kataraktgleicher Prosa geschrieben, ein Märchen: wie es im Leben manchmal passiert. Doch der große Theater- und Filmschauspieler Josef (Sepp) Bierbichler, ein Gastwirtssohn aus Ambach am Starnberger See, der nun mit Anfang 60 seinen ersten Roman geschrieben hat, erzählt auch von der Fülle des Scheiterns. Von heillos komischen Katastrophen, von fürchterlicher deutscher Weltgeschichte, die selbst die Dörfler am oberbayrischen See in ihren erdbraunen, blutigen Fängen hält.
Das Buch, nicht autobiografisch, oft eher fantastisch, aber in den Schilderungen vom Holzfällen, Sauschlachten, von Herr-Knecht-Magd-Verhältnissen und dem abgründig Heimatdoppelbödigen wunderbar erfahrungssatt, das Buch umspannt fast ein Jahrhundert. Die Mitglieder der Seewirtsfamilie und ihr weiterer Anhang sind die Täter und Opfer zweier Weltkriege und unzähliger zivilisatorischer Brüche, Sprünge, Umbrüche.
Beispielsweise ist da das Fräulein von Zwittau aus dem preußischen Osten, die es als Heimatvertriebene ab 1945 zu den Seewirtsleuten verschlägt. „Das Fräulein“, wie der Erzähler sie nennt, ist eine sonderbare, obzwar von den Russen vergewaltigte und dann doch nicht vergewaltigte Jungfrau und noch mehr als das. Allein ihre Geschichte, die auch eine der hermaphroditischen „Zipfelpritsche“ ist, gehört zum Tollsten, Unverschämtesten, Beobachtungsschärfsten, sinnlich Übersinnlichsten der deutschen Gegenwartsliteratur. So was findet sich sonst eher bei den mythenstarken Südamerikanern, bei García Márquez – oder, einst, beim deutschen Grimmelshausen oder dem frühen „Blechtrommel“-Grass.
Wunderbar auch, wie sich zwei Dutzend Schulkinder sowie Diener und Herrschaft in die Stube eines jungen Bauernknechts quetschen, um staunend und schwarz-weiß, aber doch in allen Fantasiefarben auf den fernen Petersplatz und in den römischen Dom entführt zu werden: zur Krönung von Johannes XXXIII., gleichfalls einem Bauernsohn. Es ist der 4. November 1958, den ersten Fernseher beim Seewirt besitzt der junge Knecht, und am Ende entschwebt auch die älteste Magd vor lauter Zuschauerglück leibhaftig verzaubert in den Himmel.
Freilich verliert der Knecht bald seinen Fernseher und das BMW-Motorrad, denn die fälligen Kredite waren zu wirtschaftswunderlich für manche Dörfler, die „am Aufschwung des Landes teilnehmen wollten“. Sie hatten die Glockentöne der neuen Zeit zwar vernommen, „und auch der Glaube fehlte ihnen nicht, wohl aber die Mittel“. Selbst wer hier reich wird, wird allenfalls „mittelreich“, wie der Buchtitel sagt.
Bierbichler zeigt seine Heimat als Reich der sich verlierenden Mitte. Aber auch das Alte und die Alten werden nicht verklärt. Wie nebenbei haben sie, die gerne fromm die Finger falten, noch Mörderblut, Naziblut, Judenblut an den Händen. In den Seelen. Und können doch seelengut sein. Verdränger. Vergesser. Selber Täteropfer. Bierbichler zeigt eine kleine Gesellschaft – in großen, unheimlichen, allzu menschlichen Widersprüchen. Auch der geheime, nur ab und an offen zutage tretende Erzähler, der Seewirtssohn Semi, den seine Eltern liebesbemüht, doch achtlos gegen sein Flehen an das Jesuiteninternat „Zum Heiligen Blut“ verraten, auch Semi ist ein Opfer. Missbraucht von einem Pater. Aber er wird selber zum Täter. Zum rächenden Töter. Auch seine Mutter wird er ersticken. Mit wahnsinnigen Küssen, nackt, schonungslos auf dem Sterbebett.
Das hat eine ungeheure Wucht. Manchmal gebiert das Monströse wohl ein paar sprachliche Umständlichkeiten oder vom Kontext her fremde Worte wie „virtuell“ und „Nachhaltigkeit“. Im Ganzen aber ist „Mittelreich“ ein Wurf. Und wer von der Mischung aus Pathos, Komik und einem unerbittlich mitwissenden Mitgefühl für diese Menschen noch mehr erfahren will, dem sei zudem auch Sepp Bierbichlers eigene Romanlesung empfohlen. Sie wurde gerade zum „Hörbuch des Jahres“ gewählt. Ein furioses Vergnügen.
Noch mehr als beim eigenen Lesen spürt man hier, dass der Geist des Erzählens trotz aller verfeinernden Formulierungen nicht aus der Schriftsprache, sondern vom Sprechen kommt. Bierbichlers mal rauer, mal aufbrausender oder auch unsentimental empfindsamer Ton wird so zum Sirenengesang. Und das Bayrisch-Süddeutsche zur Weltsprache.
Josef Bierbichler: Mittelreich. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011, 392 S., 22,90 €. Als Hörbuch, vom Autor gelesen. Audio Verlag, Berlin 2011, 10 CDs, 39,99 €.
Peter von Becker
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