Heinz Bude, Soziologe: In Berlin werden Debatten geführt, die für die Welt wichtig sind"
Der Soziologe Heinz Bude über die Renaissance des Bürgertums, die Krise und die Berliner Religionsdebatte.
Herr Bude, eine knappe Mehrheit der Deutschen glaubt, eine „bürgerliche Gesinnung“ zu haben, in den 50er Jahren waren es über 70 Prozent. Im Kino sehen wir „Effi Briest“ und „Buddenbrooks“. Aber hat das Bürgertum nicht längst verspielt?
Wir sind insofern eine bürgerliche Gesellschaft, als wir bestimmte Rechtspositionen für jeden Einzelnen vorsehen. Das betrifft neben den persönlichen Freiheits- und den politischen Beteiligungsrechten auch die sozialen Wohlfahrtsrechte. Das war schon so in der Arbeitnehmergesellschaft der alten Bundesrepublik. Darin wurde der klassenbewusste Arbeiter aus der Weimarer Republik mit dem angelsächsischen Staatsbürger versöhnt. Der Kanzler Helmut Schmidt, der sich als leitenden Angestellten der Republik bezeichnete, hat dieses arbeitnehmergesellschaftliche Verständnis geradezu verkörpert. Der Bruch kam in den achtziger Jahren. Gewerkschaften, öffentlicher Dienst und Tarifverträge waren nicht mehr sexy. In den neunziger Jahren wurde dann die Bürgergesellschaft ausgerufen, bei Gerhard Schröder hieß das Zivilgesellschaft. Hier tritt der Bürger als stilbildende Figur auf, dem man etwas zumuten kann, der sich selbst aber auch etwas abverlangt.
Die „bürgerliche Gesellschaft“, einst ein Kampfbegriff, wurde lange verachtet. Steht sie vor einem Comeback?
Die Bürgergesellschaft setzt sich aus selbstverantwortlichen Einzelnen zusammen und ist eine Assoziierung, bei der der Staat nicht viel zu suchen hat. In diesem Sinne sind wir eine durch und durch bürgerliche Gesellschaft. Eine andere Frage ist, ob bürgerliche Werte oder Sozialisationsformen stilbildend sind. Bildung ist einer der großen Begriffe des Bürgertums, der Bildungszugang ist bei uns über Jahre laufend erweitert worden. Allerdings hat das defensive Gefühl der Davongekommenen nach 1945 eine größere Rolle gespielt als die Vorstellung eines selbstbewussten Bürgertums. Die Selbstabschaffung des Bürgertums im Nationalsozialismus sitzt uns tief in den Knochen. Aber je größer der Abstand zu 1945, desto ungezwungener wird das Hantieren und Kokettieren mit bürgerlichen Verhaltensweisen.
Auf die Barrikaden, forderte einst der Historiker Arnulf Baring von den Bürgern. In der Krise scharen sie sich um den Staat. Kann es nicht schmusig genug zugehen?
Natürlich gibt es diejenigen, die sich wieder in die Arme des Staats werfen. Aber die Mehrheitshaltung ist eher an einer Neubestimmung des Verhältnisses von Staat, Markt und Gesellschaft interessiert. Die deutsche Tradition des Liberalismus war immer auf den Staat bezogen, und sie fand eine geniale Ausformulierung bei Ludwig Erhard. Sein Konzept der sozialen Marktwirtschaft sagt klar, die Wirtschaft braucht den Staat, damit sie Wirtschaft sein kann.
Nicht einmal vor Enteignungen wird zurückgeschreckt. Ist das nicht unbürgerlich?
Es ist falsch, darin eine Abkehr von bürgerlicher Freiheit zu sehen. Aber es ist eine historische Frage, ob wir die positiven Seiten der Eigentümergesellschaft, Selbstverantwortung und Eigeninitiative, über Bord werfen oder sie uns neu aneignen. Es gibt den Staat, den der Bürger als Steuerzahler verantwortlich beobachtet und für Aufgaben heranzieht, die er selber nicht bewerkstelligen kann; es gibt den Markt, der nicht an sich effizient ist, sondern effizient gemacht werden muss. Die Leute merken, sie haben Verantwortung für den Staat und den Markt. Wir brauchen also mehr Bürgertum, das sich artikuliert. Die Chancen dafür sind nicht schlecht.
Worauf beruht Ihre Hoffnung?
Auf den Bürgerinnen. Auffällig viele Frauen treten als Bürgerinnen auf, mit urbürgerlichen Themen wie Familie und Bildung. Das hat mit der wachsenden Bildungs- und Erwerbsbeteiligung von Frauen zu tun. Seit 1999 gibt es an den Universitäten mehr Frauen als Männer, sie machen die besseren Abschlüsse, irgendwann werden sie in den höheren Positionen gleichziehen. Sie verlangen eine neue Definition von bürgerlichem Verhalten. Sie wollen beides, Kinder und Beruf, haben konkrete Anforderungen an Kindergärten, das Bildungssystem, an städtische Kultur. Das Bürgertum beginnt ein Geschlecht zu haben. Diese Bürgerinnen werden der Ganztagsschulbewegung noch gehörige Schwierigkeiten bereiten.
Neue Väter sind auch im Kommen?
Sie sollen einem neuen Familienmodell gerecht werden und zugleich ihre, wie sagte man früher, normative Kompetenz einbringen. Es geht um eine freundliche Idee von Disziplin, eine freundliche Idee von Übung, von Entscheidung. Man kann gespannt sein, wie das mit der Idee von Verlässlichkeit, von einem geschützten Binnenraum und einer nachhaltigen Sozialisation des Nachwuchses zusammengeht.
Noch orientieren sich viele am staatlich garantierten Betreuungsangebot.
Wir stehen am Anfang einer Post-PisaDebatte. Ganztagsschulen, G-8-Abitur und Bachelor-Studiengänge schaffen im Augenblick mehr Probleme, als sie lösen. Inzwischen sagen fast alle, dass die Verhaltensaspekte im Bildungssystem wichtiger sind als die Systemeffekte etwa von Integration. Es geht nicht um Leistung oder soziale Verantwortung, in der Gegenüberstellung ist beides Unsinn. Es geht um eine Bildungskultur, die mit Übung zu tun hat, mit Anstrengungen, mit der Setzung von Maßstäben, und die gleichzeitig nicht glaubt, dass Bildungsmärkte reine Konkurrenzmärkte sind.
Im Berliner Streit um Ethik- und Religionsunterricht setzen sich gerade Hunderttausende in Bewegung. Die Keimzelle eines neuen Berliner Bürgertums?
Bürger im klassischen Sinne ist, wer nicht nur Familie und Bildung im Blick hat, sondern auch das Allgemeine. Der Begriff dafür ist Verantwortung. Da passt wieder Helmut Schmidt, als bürgerliche Sehnsuchtsfigur. Seine Bücher verkaufen sich wie verrückt, weil er seinen Lesern diese Art von Verantwortungsreflexion vorführt, die auch hinter dem Volksbegehren Pro Reli steckt. Dessen Erfolg beweist eine gewisse Entprovinzialisierung Berlins. Die Stadt meldet sich als europäische Metropole zurück: Hier werden Debatten geführt, die für die Welt wichtig sind. Ein verstockter Säkularismus, wie er in einem bestimmten Berliner Milieu gepflegt wird, passt nicht zu den Herausforderungen der postsäkularen Gesellschaft. Aus der Zeit der Religionskriege wissen wir, dass die Zivilisierung religiösen Eifers nicht dadurch geschieht, dass der Staat verkündet, worin die ethische Grundlage unserer Gesellschaft besteht.
Manche sehen die Trennung von Kirche und Staat in Gefahr.
Die Neutralitätspflicht des Staates gebietet es, der Gesellschaft Räume für ihre Selbstartikulation zu öffnen. Das ist die Idee der komplexen Laizität, wie sie mit gutem Grund im Grundgesetz verankert ist. Die Bürger führen eine offene Debatte, nicht aus Angst vor den muslimischen Radikalen. Selbstbewusst sagen sie, es gibt im öffentlichen Schulsystem Chancen der Zivilisierung von Religion. Um die Welt zu verstehen, ist es für Kinder wichtig, jemanden kennenzulernen, für den Gott eine Rolle spielt und bei dem Selbstverpflichtung aus einer Glaubensorientierung erwächst. Es geht um eine hermeneutische Neugierde. Wer den Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen verbannen will, ist gegen diese moderne Neugier. Und zwar nicht nur auf den westlichen Teil Europas, sondern auf das, was die Menschen in Asien, Afrika und nicht zuletzt Amerika bewegt.
Unsere Stadt braucht Zusammenhalt, sagt der Senat, deshalb das verbindende Fach Ethik. Ein Irrtum der Toleranzpädagogik?
Gelebte, belastbare Toleranz ist der Kitt der modernen Gesellschaft, keine Frage! Aber wie erwirbt man Toleranz? Das Berliner Konzept zum Fach Ethik ist grundfalsch, weil es suggeriert, man könne Toleranz aus der Beobachterperspektive erlernen. Nach dem Motto, jetzt machen wir vergleichende Religionslehre und nehmen uns die Werte raus, die uns passen. Jürgen Habermas hat immer wieder hervorgehoben, dass wir über die Grundlagen unserer Gesellschaft nur über die Teilnehmerperspektive befinden können, nicht über die Beobachterperspektive.
Das gilt auch für die Werteorientierung?
Es geht nicht um ein Spezialfach für Werte. Werte werden im Mathematikunterricht genauso vermittelt. Wer meint, es müsse ein Sonderfach für Werte her, der versteht die Sozialisationsinstanz Schule falsch. Der Religionsunterricht thematisiert die Bezugnahme auf eine Quelle von normativer Geltung, die in der abendländischen Tradition Gott heißt. Im Religionsunterricht geht es um den einen Gott; gleichviel ob er katholisch, protestantisch, jüdisch oder muslimisch ausgelegt wird. Auf einem simplen, säkularen Verständnis beruht die einfache Moderne, wie Ulrich Beck sagen würde. Die zweite, reflexive Moderne weiß um die Bedeutung des Glaubens. Ein Bezugspunkt für eine Kommunikation aller Globalkulturen ist die Frage nach Gott.
Ist das nicht zu europäisch gedacht?
Wie sollen wir ein Gespräch über Menschenrechte im globalen Maßstab ohne Bezugnahme auf religiöse Register führen? Der Menschenrechtsbegriff stammt aus einer christlich orientierten Tradition. Dahinter steht die Idee der Unsterblichkeit und Einzigartigkeit der Seele.
Zusammenhalt statt Pluralismus, das klingt wie „Vom Ich zum Wir“, eine antibürgerliche Parole der SED aus den fünfziger Jahren. Gibt es Parallelen?
Da sind gewisse Generationen, die sagen, wir verteidigen hier unser Berlin gegen Hinzugekommene aus Bayern, Boston oder Baku. Es handelt sich um eine bestimmte BA-IIa-Intelligenz, die mit der Religionsfrage in die Defensive geraten ist. Es ist ein notwendiger Streit, der Berlin öffnet und freier macht.
„Arm, aber sexy“: Ist Wowereits Parole eine Kampfansage an das Bürgertum?
Klaus Wowereit ist ein dezidiert unbürgerlicher Politiker, geschickt und mit hoher Situationsintelligenz. Er genießt viel Zuspruch. Dass er sich beim Thema Religionsunterricht derart verrannt hat – ist das ein letzter Rest von antibürgerlichem Ressentiment? Dann wäre er für sozial verantwortlich denkende und religiös verankerte Bürger nicht mehr wählbar.
Heinz Bude spricht am Samstag, 18. 4. (12 Uhr) beim taz-Kongress im Haus der Kulturen der Welt über Entfremdung. Info: http://30jahre.taz.de/programm. – Das Gespräch führte Benedict Maria Mülder.
Heinz Bude, 54, lebt seit 1975 in Berlin- Kreuzberg. Er lehrt in Kassel Soziologie und arbeitet am Institut für Sozialforschung, Hamburg. Zuletzt erschien „Die Ausgeschlossenen“ (Hanser, 2008)
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