Knausgård-Roman "Sterben": Immer im ersten Gang
Karl Ove Knausgård erzählt in „Sterben“ von seiner Kindheit und Jugend in Norwegen
Fulminanter könnte der Einstieg in einen Roman mit einem derart lakonischen Titel kaum sein: Karl Ove Knausgård beginnt „Sterben“ mit dem Moment des Todes, also jenem Augenblick, in dem das Herz mit dem Schlagen aufgehört hat, der Mensch zu einer Leiche wird, der Zersetzungsprozess beginnt. Im Aufrufen medizinischer Fachausdrücke klingt noch einmal so etwas wie Individualität an – die Haverschen Kanäle, die Lieberkühnschen Drüsen, die Langerhansschen Inseln –, dann aber bleibt nur noch die Anonymität des Abgestorbenen, des vom Leben Verlassenen, der Leiche eben. Und die hat, wie wir wissen, etwas absolut Anstößiges. Sofort wird sie abgedeckt, aus dem Blickfeld geräumt, weggeschafft.
Knausgård findet von dort den Weg zu seiner eigenen Geschichte mit der Erinnerung an einen Abend, als er acht Jahre alt war und allein im Fernsehen den Bericht über ein Fischerboot sah, das in der Nacht zuvor, bei ruhigem Wetter, untergegangen war. Das Kind sieht die nichtssagenden Bilder der Stelle des Verschwindens, und „ohne zu hören, was der Reporter sagt, starre ich auf die Meeresoberfläche und plötzlich tauchen die Umrisse eines Gesichtes auf“. Als er tief beeindruckt versucht, seinem Vater davon zu erzählen, stößt er nicht auf das erhoffte Interesse. Und als das Fernsehen später nochmals von dem Unglück berichtet und er heimlich mitschaut, werden andere Bilder gezeigt. Das Kind kann das, was es gesehen hat, nicht teilen. Es wird gezwungen, das als Geheimnis in sich zu bewahren und zu verschließen. Auf eindrucksvolle Weise erlebt man so den unfreiwilligen schmerzhaften Prozess des Werdens eines Individuums durch Vereinzelung mit.
Was nun auf Hunderten von Seiten folgt, ist die Erzählung einer Kindheit und Jugend in den siebziger und achtziger Jahren in Norwegen, und zwar der Kindheit und Jugend des Autors: Auch wenn das Wort Roman unter dem Titel steht – es ist ein entschlossen autobiografisches Erzählen, und die Namensgleichheit von Held und Autor ist hier einmal kein literarischer Schmock.
Der Autor will erzählen, was ihn seinerzeit beschäftigt und bedrückt hat, und das sind durchweg jene Dinge, die Jungen in dem Alter immer schon und überall das Leben und das Erwachsenwerden nicht leicht und manchmal richtig schwer gemacht haben: die Behelligung durch Pubertät und Autorität, all das Peinliche und Peinigende bei dem Versuch, die eigene Rolle im Kreis der anderen zu finden.
Knausgård erzählt gewiss eher mehr als weniger aufrichtig, was aber auch bedeutet: Man liest Vertrautes. Um das aber noch einmal so lebendig werden zu lassen, dass man gleichsam durch Knausgård hindurch – man weicht ihm nämlich die ganze Länge des Romans hindurch nicht von der Seite – das Prinzipielle und also sich selbst zu finden meint, dazu bedürfte es doch anderer literarischer Mittel, als sie diesem Autor zur Verfügung stehen. Gewiss, Knausgård erzählt unprätentiös, umgeht das bei seinem Thema besonders gefährliche Pathos, schminkt sich nicht auf – es ist ein anständiges Erzählen. Aber es gibt auch wenig Farben unter der blassen Sonne des Nordens und Metaphern so wenig wie einlässliche, überraschende Beschreibungen. Wenn Menschen auftauchen, erfährt man etwas über die Haarfarbe, die Nase, ein Lächeln, „das ich bewunderte und unendlich attraktiv fand“, über Brüste, die „üppig und hübsch waren, die Hüften von perfekter Breite“. Wenn es ihn quält, dass irgendwas mit der Ausrichtung seines Schwanzes nicht stimmen könnte, schreibt er, „meine Verzweiflung war entsprechend groß“. Vieles liest sich wie ein Jugendbuch, manches wie eine Gebrauchsanweisung. Knausgård gehört zu jenen, die ungern ein Zimmer betreten, ohne zu sagen, dass sie zuvor die Tür geöffnet haben. Mit quälender Regelmäßigkeit wird einem jedes Mal, wenn jemand mit einem Auto losfährt, mitgeteilt, dass erst mal ein Gang eingelegt wurde.
Dass Vorkommnisse noch keine Ereignisse sind, zeigt die Geschichte eines missglückten Silvesterabends, bei dem der Leser mit den Beteiligten darauf wartet, dass etwas passiert oder das Dabeisein lohnt. Zu oft erzählt Knausgård einfach nur penibel nach, und da er obendrein ein hilfloser Dialogschreiber ist, bleibt man darauf angewiesen, dass sich Erzählenswertes ereignet. Das immerhin ist auf den letzten hundert Seiten der Fall.
Der Vater nämlich, streng und gefürchtet, distanziert und schwer durchschaubar, hat sich von der Familie getrennt. Er zieht in das Haus seiner Mutter, wo er sich – warum bleibt unklar – entschlossen zu Tode säuft. Sobald Karl Ove und sein Bruder die Todesnachricht erhalten, fahren sie dorthin und finden die Großmutter in einer Anhäufung von Flaschen, Dreck, Kot, Fäulnis und Elend. Im Schauhaus des Beerdigungsinstituts versichern sie einander, dass der Vater wirklich tot ist, dann beginnen sie die Sisyphosarbeit des Auf- und Wegräumens, das zu einem wahrhaft verzweifelten Reinigungsritual wird, mit der das Haus für die Leichenfeier hergerichtet werden soll.
Dann aber erliegen sie dem Locken ihrer längst vom Sohn zur Alkoholikerin gemachten Großmutter und gönnen sich „einen Drink“, gießen allesamt viel Wodka in sich hinein und werden am Ende vom Kichern und Lachen so überwältigt, dass sie gar nicht merken, dass ein Vierter unter ihnen ist und mittrinkt.
Das ist eindrucksvoll, und man sieht: Knausgård braucht einen Stoff, der das Erzählen lohnt und der auch bei seinen kargen Mitteln überwältigt. Hoffentlich geht der ihm nicht aus, denn „Sterben“ ist nur der erste einer Folge von sechs Romanen, von denen vier schon vorliegen und die in Skandinavien ein großer Erfolg sind. Nicht dass man den Autor dort schon mit Christus und mit Proust verglichen hat, beunruhigt, sondern dass man ihn dafür rühmt, dass er zehn Buchseiten pro Tag, im Jahr also 3000 Seiten geschrieben hat. Auch wenn das Weltrekord sein sollte – es hat etwas Beängstigendes.
Karl Ove Knausgård: Sterben. Roman. Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand Verlag, München 2011.
576 Seiten, 22, 90 €.
Jochen Jung
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