"M-Train" von Patti Smith: Im Zug der Zeit
Unerschütterliche Künstlerin, Träumerin und Literaturliebhaberin: Patti Smith erzählt in „M Train“ von sich und ihren Toten.
Es passiert schon mal, dass Patti Smith sich sehr wundert über ihre Liebe zur Literatur und ihren Drang zum Schreiben. Zum Beispiel, als sie nach der Lektüre von Roberto Bolaños Großroman „2666“ dessen Haus in Spanien besucht und sich auf Bolaños ewigen Schreibtischstuhl setzt, den der 2003 verstorbene chilenische Schriftsteller abergläubisch von Wohnung zu Wohnung mitschleppte. „Bildete ich mir ein, darauf zu sitzen würde eine bessere Literatin aus mir machen?“, fragt Smith und wischt dann, wie sie schreibt, mit „einem selbstkritischen Schauder“ den Staub von dem Polaroid-Foto, das sie von Bolaños Stuhl gemacht hat.
Oder sie kann wieder einmal überhaupt nicht fassen, was „für eine Droge“ W. G. Sebalds kleiner Gedichtband „Nach der Natur“ ist. Der weckt in ihr jedes Mal aufs Neue zwanghaft den Wunsch, „das von ihm Geschriebene selbst zu besitzen.“ Und sie weiß: Gegen diese Sucht, diesen Zwang hilft nur das eigene Schreiben.
Für die 1946 in Chicago geborene Smith besteht das Leben inzwischen vor allem aus Schreiben, was ihr gerade veröffentlichter zweiter Erinnerungsband „M Train“ trefflich und durchaus poetisch demonstriert. „M Train“ folgt auf das 2010 erschienene und in den USA mit dem National Book Award ausgezeichnete Buch „Just Kids“, in dem Smith die Geschichte ihrer Freundschaft zu dem Fotografen Robert Mapplethorpe erzählt; ein Buch, das dabei gleichzeitig Entwicklungs- und Künstlerinnenroman ist. Mit ihrem Debütalbum „Horses“ schrieb die Sängerin und Gitarristin 1975 Rockmusikgeschichte, mit „Because The Night“ folgte ein paar Jahre später ihr größter, auch kommerziell erfolgreicher Hit, und seitdem wird sie nicht so sehr als Dichterin, Fotografin und Malerin wahrgenommen, sondern als Rockstar und „Godmother of Punk“, als Prä-Punk- und Rock-Ikone.
Smith will die Toten zum Leben erwecken
Man könnte nun die Terminologie des Musikgeschäfts bemühen und sagen, dass „M Train“ das bekannt „schwierige zweite Album“ ist. Doch das trifft es nicht ganz, weil Patti Smith eben seit den frühen siebziger Jahren Gedichte, Prosa, Tagebuch und Traumsequenzen schreibt. „M Train“ ist keine Fortsetzung von „Just Kids“, dafür ist es allein formal völlig anders: weniger stringent, skizzenhafter, dazu Zeiten und Räume durchwandernd, eine Spur abgedrehter, esoterischer, konkret verträumt.
Es beginnt mit einem Traum, dem „Bild eines Traums“, das Smith glaubt zu „betreten“. Darin trifft sie einen Cowboy, „schön und äußerst lakonisch balancierte er zurückgelehnt auf einem Klappstuhl“, mit dem sie in diesem Buch im folgenden desöfteren Zwiesprache hält. Zu Beginn diktiert er Smith den Satz „Der Schriftsteller ist ein Zugführer“, woraufhin sie sich in den Zug setzt, den M-Train, den Mystery Train, und auf Reisen geht: nach Berlin und Tokio, Mexiko und Französisch-Guyana, Tanger und Yorkshire, immer auf der Zeitleiste sich vor- und zurückbewegend.
Der Cowboy, das ist unverkennbar der Schauspieler und Schriftsteller Sam Shepard, mit dem Smith Anfang der Siebziger eine heftige, schmerzhafte Affäre hatte und dem sie dieses Buch gewidmet hat. Dass sie mit ihm einen noch sehr lebendigen Menschen zu ihrem fiktiven Widerpart macht, ist ein genauso hübscher wie seltsamer Erzählkniff. Denn die wichtigsten Figuren in „M Train“ sind ihre Toten, das Buch hat was von einer Totenbeschwörung, einem Requiem. Patti Smith scheint damit der verzweifelt gestellten Frage, die „Just Kids“ beschloss, eine konkrete Antwort geben zu wollen: „Warum kann ich nicht etwas schreiben, dass die Toten zum Leben erweckt?"
Am Grab von Sylvia Plath hat sie das Bedürfnis zu pinkeln
Sie erinnert sich an ihre Kindheit in Philadelphia mit ihren Geschwistern Linda und Todd (der 1994 überraschend starb), an ihre streng gläubige Mutter und ihren Vater, der Fabrikarbeiter und häufig nachts auf Schicht war. Vor allem aber erinnert sich sie an ihren Ehemann Fred „Sonic“ Smith, den Musiker der legendären Band MC 5, der ebenfalls 1994 ums Leben kam, durch einen Schlaganfall. Immer wieder kommt sie auf Fred zurück: auf ihr Kennenlernen, ihre Reise nach Französisch-Guayana, ihr Leben in Detroit und am Lake Ann in Michigan. Es ist ein Leben mit zwei Kindern, fern von New York City, aber stets mit einer „Uhr ohne Zeiger“ (was nicht leicht gewesen sein dürfte in dieser Kombination). Und sie erinnert sich seines Todes, der auf einen wohl stürmischen Tag datiert. „Eine Vielzahl zusammenfallender Kräfte“, so Smith, „schien die Erinnerungen vollends in die Gegenwart zu holen.“
Freds Tod nämlich wird Patti Smith besonders gegenwärtig, als der Wirbelsturm Sandy über die Ostküste der USA fegt und verheerende Zerstörungen anrichtet. Diese Art der quasi telepathischen Bündelung von Kräften, der autobiografisch-literarischen Verschränkung von aktuellen Ereignissen und Erlebnissen mit der Vergangenheit, sie dominiert dieses Erinnerungsbuch. Was natürlich, ähnlich wie die Traumbilder, in denen Smith mit ihrem Cowboy parliert, beim Lesen mitunter für etwas Verstörung und unfreiwillige Komik sorgt.
Zwischen Beatnik-Sozialisation und Seventies-Esoterik
Zum Beispiel wenn sie im blauen Haus des von ihr seit Jugendzeiten bewunderten mexikanischen Künstlerehepaars Frida Kahlo und Diego Rivera, das heute ein Museum ist, einen Schwächeanfall hat und die Museumsdirektorin ihr anbietet, im Bett von Rivera auszuruhen. Dabei glaubt Smith Kahlos Nähe zu spüren, „ihr unverwüstliches Leiden, das einherging mit ihrem revolutionären Feuer“. Oder wenn sie ein drittes Mal zum Grab der englischen Dichterin Sylvia Plath pilgert und flüstert: „Ich bin zurückgekommen, Sylvia!“. Und mehr noch: Sie hat an Plaths Grab plötzlich den „unkontrollierbaren Drang zu urinieren“ und stellt sich vor, „einen kleinen Strom zu vergießen, einen Teil von ihr, der ihr Nähe und menschliche Wärme gab. Leben, Sylvia, Leben.“
Das hat den Charakter einer Séance, da vermischen sich Beatnik-Sozialisation und Seventies-Esoterik – und da ist man doch sehr beruhigt, dass Smith auch in der Lage ist, in ihrem Stammcafé mit dem Besitzer oder den Kellnern zu sprechen. Oder sie Fernsehserien nacherzählt und gesteht, ein Serien-Junkie zu sein. Doch zeigt sich bei dieser Art der Kommunikation mit den toten Künstlern und Künstlerinnen, wie ernst es ihr mit der Kunst und der Literatur und dem Schreiben ist. Es ein manchmal sehr stilles und gewollt einsames Leben, wie es scheint, ein Leben mit und in der Literatur. Tatsächlich will sie ja nicht nur auf Bolaños Stuhl sitzen und allein dadurch eine bessere Schriftstellerin werden. Nein, sie „dekonstruiert“ Bolaños Roman „2666“ richtiggehend oder verfasst für den Schriftsteller ein Hundert-Zeilen-Gedicht, was ihr aber nicht recht gelingen will (trotzdem würde man es gern einmal lesen!)
Ihr Leben besteht vor allem aus Literatur
All das fällt umso mehr auf, da Patti Smith über ihr Leben als Rocksängerin, über das Rockmusikbusiness und ihre Erfahrungen damit, kein Wort verliert: nicht über das in den späten siebziger Jahren, nicht über das in der jüngeren Gegenwart, in der sie regelmäßig neue Alben einspielt und genauso regelmäßig auf Tour geht, zuletzt im vergangenen Jahr, als sie „Horses“ wieder live aufführte.
Von Patti Smiths „unstillbarem Hunger auf Kunst, Musik und Literatur“ hat der englische Schriftsteller Nick Hornby einmal geschwärmt, ihrem „unerschütterlichen Künstlertum“. Trotz der privaten Erinnerungen, trotz der von ihr hin und wieder gleichfalls zum Ausdruck gebrachten Verwunderung darüber, überlebt zu haben und alt zu werden – „M Train“ ist genau das: Das Buch einer unerschütterlichen Künstlerin, der Versuch, das eigene Leben nicht nur nachzuerzählen, sondern daraus Literatur zu machen. Wenn sie am Ende wieder in einem Traum verschwindet und für die Zukunft „eine Arie auf einen Mantel“ oder „ein Requiem auf ein Café“ ankündigt, darf man das ruhig als Versprechen verstehen.
Patti Smith: M Train. Erinnerungen. Aus dem amerikanischen Englisch von Brigitte Jakobeit. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016. 334 Seiten, 19, 99 €
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