Kultur: Im Tollhaus der Toleranz
Das Stück zum Outing: Falk Richters Projekt „Small Town Boy“ über Geschlechter-Identitäten im Maxim Gorki Theater.
„Sprich über letzte Nacht!“, fordert Russell seinen Sexpartner Glen im Maxim Gorki Theater auf. Als der Angesprochene leicht irritiert dreinschaut, outet sich Russell als einer dieser gefürchteten Selfie-Kultur-Freaks: „Das ist für ein Kunstprojekt!“ Viel später – wir haben bereits einiges über Achselhöhlen und Schwanzhärtegrade erfahren in diesem Rampen-Dialog – fragt Russell: „Wissen es deine Eltern?“ Darauf Glen, betont cool: „Ist nicht kompliziert; du musst es nur tun! Ich habe einfach gesagt, egal, ob angeboren oder falsche Erziehung, es ist eh eure Schuld!“
Super Timing: Nach der gigantischen Medienwelle wirkt Falk Richters knapp zweistündige Arbeit am Maxim Gorki Theater jetzt wie das Bühnenstück zum schwulen Coming-out des Ex-Fußballnationalspielers Thomas Hitzlsperger. Tatsächlich muss man im Laufe des Abends, der in Wahrheit natürlich schon Monate vor dem Sportler-Outing entwickelt wurde, immer wieder an das Statement des Hitzlsperger-Kollegen Arjen Robben denken: „Er ist homosexuell – na und?“
Andererseits: Dem spontanen Impuls, das Gorki renne hier meilenweit offene Türen ein, widersprechen ja nicht nur Ultrakonservative. Richter versucht die Lücke zwischen generös zur Schau gestelltem Freigeist und verschwiegenem Ressentiment, das auch dem einen oder anderen aufgeklärten Theatergänger nicht völlig fremd sein dürfte, abendfüllend aufzuzeigen. Dabei reflektiert „Small Town Boy“ – benannt nach dem Bronski-BeatHit von 1984 – nicht nur über schwule Identität, sondern allgemein über Geschlechterkonstrukte, Beziehungsmodelle und ihre Kollision mit „diesem Wirtschaftssystem“, das uns Zeitgenossen zu „reinen Leistungsobjekten“ zurichte: Richters erste Gorki-Arbeit knüpft unverkennbar an seine früheren Schaubühnen-Abende an.
Über dem von Katrin Hoffmann kreierten Drehbühnen-Szenario, eine Mischung aus (Projekt-)Studio und ehemaligem Provinzkaff-Kinderzimmer, hängen die Konterfeis von Gender-Crossing-Pionieren wie David Bowie, Annie Lennox und Rainer Werner Fassbinder. Entsprechend werden Geschlechterklischees parodiert; zum Beispiel von Lea Draeger als Business-Woman mit Hang zu seichten „Shades of Grey“-Fantasien: „Mein Kopf soll nicht immer so frei entscheiden dürfen, der braucht klare Ansagen. Dafür ist es manchmal einfach echt gut, so ein paar unterkomplexe südländische oder osteuropäische Männlichkeitskonstrukte um sich herum zu haben“, stellt sie klar.
Die Kippfigur zwischen Bekenntnis und Parodie ist Richters Mittel par excellence. Insofern bleibt der Abend amüsant: Großes Gelächter im Publikum, wenn sich Niels Bormann in den Erotik-Bestseller der britischen Autorin E. L. James vertieft und mit einer Miene, als würde er mindestens Goethe zitieren, zum Besten gibt: „Jetzt nehme ich seinen göttlichen Fleischhaken ganz in den Mund ... Meine Feuervulva brennt.“ Oder wenn Aleksandar Radenkovic stotternd auf der Bühne sitzt, bis er unter Tränen hervorpresst: „Ich habe euch zusammengerufen, weil ... es ist so schwer ... Ich bin heterosexuell.“
Richter setzt die muntere Klischeeschlacht fort, die sich das multiethnische Gorki-Ensemble bereits in Yael Ronens Abend „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ geliefert hatte. Allerdings ist „der Russe“ – so Thomas Wodianka in einer Art Wutbürgerrede – auch einer, „der zwanzigjährige Mütter ins Arbeitslager steckt“. Wodianka redet sich gegen die Homo-Diskriminierung von Putin und Konsorten derart in Rage, dass man sich im Theater wie bei einer Demo auf dem Alexanderplatz fühlt. Seinen vielleicht stärksten Moment hat der Abend, wenn die Wutrede zu Ilse Aigner wechselt: „Diese Frau ... seit Jahrzehnten kinderlos ... wie Angela Merkel... all diese Frauen, die ... unentwegt vom Schutz der Ehe quatschen, leben in kinderlosen Ehen oder sind Single oder geschieden oder alles zusammen“, schimpft der Schauspieler. Ja, es stimmt: Ob Schwule mit Kindern oder kinderlose Frauen mit familienpolitischer Entscheidungskompetenz – bis zur umfassenden gegenseitigen Toleranz und geistigen Emanzipation von antiquierten Rollenbildern ist es noch ein weiter Weg. Christine Wahl
Wieder am 15. & 28. 1., 19.30 Uhr
Christine Wahl
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