Lyrik: Im Marmor herrscht Alarm
Gedichte auf den Berliner Pergamonaltar: Der Lyriker Gerhard Falkner fragt in seinen „Pergamon Poems“ nach der Lebendigkeit der antiken Götter und Giganten. Dazu gehören auch Video-Clips mit Ensemblemitgliedern der Schaubühne.
Vom ursprünglichen Glanz des Altars von Pergamon, wie er zwei Jahrhunderte vor Christus über der kleinasiatischen Stadt zu leuchten begann, sind auf der Berliner Museumsinsel nur noch sorgsam aneinandergefügte Trümmer übrig. Vielleicht ist die marmorne Erhabenheit dieses antiken Monuments aber gerade dadurch noch gestiegen. Für den Dichter Gerhard Falkner ist der Pergamonaltar überdies ein riesiger Datenträger. „Wie viel Gigabyte hat dieser Fries, welch / gigantisches Archiv birgt dieser Stein“, fragt er in seinen „Pergamon Poems“. Falkners Zyklus dringt ein in die Lücken und Leerstellen des Ende des 19. Jahrhunderts ausgegrabenen Monuments und schreibt die unterbrochenen, tausendfach fragmentierten Gesten mit poetischen Mitteln fort. Nicht, um sie nachträglich zu vollenden, sondern ins Imaginäre hinein, so wie es von Herakles heißt: „Er fehlt! / Nur die Idee kann ihn ergänzen.“
Falkner dynamisiert die in Stein gebannte Schlacht: „Die Göttinnen packen die Helden / bei den Haaren und reißen sie wie Bäume / aus dem Boden. (...) Im Marmor herrscht Alarm.“ Action, Drama, ein Kampf um Leben und Tod wie in einem Blockbuster. Von Pergamon nach Hollywood, von Artemis bis zu Quentin Tarantinos „Kill Bill“ sind es bei Falkner keine drei Schritte – und keine drei Striche in Andreas Töpfers Illustration der Jagdgöttin als schwerterschwingender Kiddo. Selbst der passende Soundtrack wird mitgeliefert: „Die Glieder klingen / nach den Göttern, die sie spielen, nach / Giganten, denen sie gebrochen werden, Muskeln / musizieren“.
Wie in seinem letzten Gedichtband „Hölderlin Reparatur“ (2008) arbeitet sich der 1951 geborene Dichter an der Überlieferung ab und changiert dabei permanent zwischen Affirmation und ironischer Brechung. Kaum zu entscheiden, ob er die Olympier wiederbeleben oder endgültig in den Orkus treten will. Da wird Aurora, die Göttin der Morgenröte, schon mal an die „Orangensaftmaschine“ abkommandiert, um den täglichen Sonnenaufgang zuzubereiten.
Den literarischen Ahnen ergeht es kaum besser: Falkner montiert und verfremdet Bruchstücke, am liebsten von Büchner, Goethe, Hölderlin, immer mit dem Ziel, eine Fallhöhe auszuloten zwischen den Hochphasen abendländischer Kultur und der Welt von heute. Aus einem radikalen Defizitempfinden heraus macht er sich zum Anwalt des hohen Tons, nur um im nächsten Moment dem Pathos die Luft abzulassen: „Wer nicht nach oben blickt / findet das Höhere nie. Ihr glaubt es nicht: Anruf bei Goethe genügt!“
Falkners poetologisches Programm erschöpft sich aber nicht in der spielerischen Dekonstruktion literarischer Vorbilder: Der Clash zwischen Tradition und Moderne, im Gedicht sprachlich ausgefochten, bleibt ohne Aussicht auf den Schlichterspruch. Falkner will die Konfrontation mit den Idealen vergangener Kunstepochen nicht ironisierend abfedern, sondern die Widersprüche gestalten. Diesen hochgesteckten Anspruch löst Falkner ein, wenn er lyrisches Pathos, (manipulierte) Idiome und IT- oder Werbejargon kollidieren lässt. Dazu gehört auch der Mut zu sagen: „Das Beispiel, das die Griechen gaben: / man wird es nicht mehr los“ – und darin weniger eine Zumutung als eine Herausforderung zu erkennen.
Umso bedauerlicher, dass er die durch den ganzen Band hindurch exponierte Diskrepanz zwischen antiker Hochkultur und modernem Alltag im letzten Gedicht in einem kulturpessimistischen Abgesang simplifiziert. Der Mensch im sinnentleerten Hier und Jetzt erlebt „Höhepunkte höchstens noch im Fußballfieber“, bevor sein Leben „im Lustigen verpufft“. Die von den Olympiern im Fries verkörperten Ideale von Größe, Schönheit und Kraft überfordern ihn: „Du sagst: mich lässt der Marmor kalt, die / alten Scherben // ... ich habe keinen Sinn für etwas, das mich / übersteigt“.
Hier lesen sich die „Pergamon Poems“ wie ein Gegenentwurf zur Fries-Interpretation von Peter Weiss in der „Ästhetik des Widerstands“. Dort steht der Fries als Sinnbild für die gesellschaftlich institutionalisierte Unterdrückung durch die herrschende Klasse. Das „Ineinandergreifen der Gesten“ werde zwar von Spezialisten kunsthistorisch analysiert, es bewege aber auch weniger gebildete Menschen unmittelbar. Anders Falkner: Bei ihm überwiegt die Skepsis, ob der Fries, in dem „mit Lust und Größe alles ineinandergreift“, heute überhaupt noch rezipiert werden kann. Dieses Misstrauen steht allerdings quer zur Grundidee der „Pergamon Poems“: Als Auftragsarbeit für die Staatlichen Museen Berlin entstanden, experimentieren sie in der Kombination von Gedichten und Video-Clips ausdrücklich mit neuen Rezeptionswegen: Auf den fünf Clips rezitieren die Schaubühnen-Schauspieler Judith Engel, Eva Meckbach, Tilman Strauss, Sebastian Schwarz und Jenny König die Verse, versetzt mit kurzen, wie aufgesplitterten Bildern vom Fries. Auch sind die Gedichte schon in der Erstausgabe auf Zweisprachigkeit angelegt. Die englischen Fassungen des New Yorker Germanisten Mark Anderson stehen auf der Rückseite des Originals und nicht daneben, wie sonst üblich.
So signalisiert das Umblättern dem Leser: Die Übersetzung gilt als eigener poetischer Text. Dementsprechend setzt Anderson auch neue Akzente. Wie im Schlussgedicht, wo das angesprochene Du trotzig behauptet, es begeistere sich auch deshalb nicht für den Pergamon-Fries, weil es eben „kein Griechisch“ kann. Bei Anderson heißt es: „it’s all Greek to me“, was dem Sprecher genau jene Portion Selbstironie verleiht, die ihm bei Falkner abgesprochen wird. Dass dieses Augenzwinkern im Original nicht angelegt ist, erscheint jedoch gleichermaßen plausibel. Ein Verlustempfinden, wie es bei Falkner herrscht, ist auch durch Ironie nicht wettzumachen.
Gerhard Falkner: Pergamon Poems.
Gedichte. Deutsch-Englisch. Ins Englische übertragen von Mark Anderson. kookbooks. Berlin 2012. 64 Seiten, DVD mit 5 Videoclips, 19,90 €.
Angela Sanmann
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