Kultur: Im Geisterhaus der Geschichte
Erstmals kommt in Zagreb ein Drama über den kroatischen Holocaust auf die Bühne: zur Uraufführung von Slobodan Snajders „5. Evangelium“
Es ist der grausigste Mythos des an blutigen Geschichten so reichen Balkan. Und war doch vor einem Menschenalter Realität: das KZ und Mordlager Jasenovac, 1941 bis zum Kriegsende von der mit den Deutschen verbündeten kroatischen Ustascha-Regierung betrieben – als Vernichtungsstätte vor allem für Serben, dazu auch für Zigeuner und Juden. Etwa 80000 bis 100000 Menschen wurden hier in vier Jahren umgebracht, ohne Gaskammern, ohne die deutsche mordindustrielle Perfektion. Viele Opfer starben nicht einmal durch Kugeln, sondern wurden erwürgt, mit Hämmern erschlagen, mit Messern erstochen oder lebendig verbrannt.
Jasenovac wird oft als „Auschwitz des Balkans“ beraunt – und in Kroatien von Rechten und Traditionalisten ins düster Nebulöse, fast Vorgeschichtliche entrückt. Während man zugleich die „nationale Ehre“ der kroatischen Geschichte konservieren möchte und der erste Präsident des neuen, unabhängigen Kroatien, Franjo Tudjman – wie sein Gegenspieler Milosevic ein gewendeter Ex-Kommunist –, sich durchaus auf die nationalistische Tradition der Ustascha-Bewegung unter dem späteren NS-Kollaborateur und Kriegsdikator Ante Pavelic berief.
Ein Ereignis also, dass das ZeKaeM Zagreb, ein Stadttheater nahe dem staatlichen Nationaltheater, jetzt in der kroatischen Hauptstadt „Das 5. Evangelium“ von Slobodan Snajder uraufgeführt hat. Denn das Stück spielt in Jasenovac und dem Nebenlager Stara Gradiska. Ein brisanter Stoff, zumal Tudjman erst ein paar Jahre tot ist und seine nationalkonservative Partei HDZ seit ihrem Wahlsieg Ende 2003 in Kroatien wieder an der Macht. Zudem galt der 1948 in Zagreb geborene Snajder, Kroatiens international bekanntester Dramatiker, lange Zeit als bewunderter und gehasster Provokateur. Sein in Deutschland und anderen Ländern gespieltes Drama über Kunst und Kollaboration, „Der kroatische Faust“ – Handlungsort: das Nationaltheater in Zagreb während der NS-/Ustascha-Zeit –, war in Kroatien tabu; Snajder lebte während der Jugoslawienkriege in den Neunzigerjahren als Emigrant in Deutschland und Frankreich, er schrieb das poetischste, dunkelste Stück über die Vergewaltigungsgreuel im Bosnienkrieg („Schlangenhaut“) und hat erst nach vielen Widerständen vor drei Jahren die Intendanz des „Jungen Theaters“ ZeKaeM übernehmen können.
Auch sein neuer Text rührt an mehr als nur die kroatische Geschichte. Es beruht auf den Tagebüchern von Ilja Jakovljevic aus dem Jahr 1945, die, noch nie ins Deutsche übersetzt, laut Slobodan Snajder als Zeugnisse des Lebens und Überlebens im Lager wie die Bücher von Kertész, Semprun, Ruth Klüger, Cordelia Edvardson oder Primo Levi eigentlich zur Weltliteratur gehören.
Der kroatische Publizist Jakovljevic war als Mittvierziger zwei Jahre in Jasenovac/Stara Gradiska inhaftiert, einer von nur ein paar hundert Überlebenden. Doch der spätere Partisan auf Titos Seite wurde in den stalinistischen Nachkriegsjahren erneut zum Opfer und als angeblicher Agent verhaftet und im Zeichen der neuen Freiheit 1948 von der politischen Polizei in Belgrad ermordet. So reflektiert das „5. Evangelium“ auch die widersprüchliche gemeinsame Historie jenes Jugoslawien, das selbst nach seinem staatlichen Ende noch längst nicht vergangen ist.
Vor dem Blick ins Theater, das ja immer Weltraum und Black Box zugleich ist, ein Blick nochmal hinaus in die Wirklichkeit: Jasenovac liegt nur eine Fahrstunde von Zagreb entfernt, nahe der Eisenbahnlinie und der Autobahn von Zagreb nach Belgrad, im Marsch- und Ödland des Save-Flusses. Die wenigen Häuser der Ortschaft Jasenovac waren vor einem Jahrzehnt noch einmal zwischen Serben und Kroaten blutig umkämpft, und jenseits der Save, wo sich die Massentötungen, wie man in Aleksandar Tismas Roman „Kapo“ nachlesen kann, zu einem selbst bei Dante, Hieronymus Bosch oder Goya nie vorstellbaren Inferno steigerten, dort beginnt schon die serbische Teilrepublik von Bosnien-Herzegowina. Weshalb die Erinnerung oder gar ein gemeinsames Gedenken durch den Grenzfluss und auch den Blutstrom der jüngsten Zeitgeschichte nochmals verwehrt, getrennt, verdrängt werden.
Aus den killing fields von Jasenovac, wo ein kleines Museum am Eingang des 1945 zerstörten, heute überwachsenen Lagers seit Jahren seiner Wiedereröffnung harrt, ragt so als einziges Mahnmal eine weiße FlammenBlüte aus Beton empor, ein Werk des einstigen Belgrader Architekten und Bürgermeisters Bogdan Bogdanovic, den die Diktatur und Zerfallsgewalt (Ex-)Jugoslawiens ebenfalls ins Exil getrieben hat. Seine steinerne Rose trägt ein junger Soldat am Ende der Zagreber Aufführung des „5. Evangeliums“ auf die Bühne: eine kleine Nachbildung – ein Modell, doch es bleibt angesichts der jugoslawischen Geschichte und der Biographie des Zeugen Jakovljevic offen, ob es ein Zeichen der Befreiung, des Trostes oder doch nur der Illusion sein soll.
Slobodan Snajder weiß, dass man die Innenwelt eines Konzentrationslagers nicht dokumentarisch-realistisch auf die Bühne bringen, zwingen kann. George Tabori hatte einst für seine „Kannibalen“, 1969 das erste Stück, das in Auschwitz spielte, die schwarze Groteske gewählt. Snajder dagegen verzichtet auf jeden zusammenhängenden Erzählbogen – bei ihm ist die Brücke zur Vergangenheit explodiert, der Spiegel der Begriffe und Erinnerungen gesprungen. Doch er sammelt die Bruchstücke, behaucht und poliert die Scherben voll Blut und Dreck. Diesen Eindruck hat der (auch für die Hamburger Kampnagelfabrik arbeitende) Regisseur Branko Brezovec zusammen mit dem Bühnenbildner Tihomir Milovac noch bewusst verstärkt, indem er das Stück in einen Spiegelglaskasten versetzt, in dem sich die Zuschauer auf zwei Tribünen, die auch zu Lager-Höhlen werden, gleichsam mitspiegeln.
Das vielfach reflexive, facettenhafte Spiegelspiel im gläsernen Gespensterhaus, das manchmal dem offenen Kopf des Häftlings Jakovljevic gleicht, ist stark expressiv, doch in allen schrillen, auch musikalischen Effekten wirkt das überwiegend junge zehnköpfige Ensemble hoch diszipliniert. Und manchmal sehr virtuos: Wenn etwa nur Köpfe und Fäuste der Ustascha aus den Löchern schwarzer Regenschirme grüßen. Es ist, oft mit deutschem Text und Liedern durchsetzt (und einen SS-General spielt der Hamburger Schauspieler Hans-Jörg Frey), ein Totentanz – im Tollhaus einer vernunftübersteigenden Realität.
Und reale Anspielungen sind selbst so märchenhafte Requisiten wie die rotweißblau in den Landesfarben bemalten Holzwerkzeuge. Kratzt man an ihrem folkloristischen Lack, kommen die einstigen Mordwaffen zum Vorschein. Ein älterer massiger Mann, mit schwermütigem Ernst, ist der großartige Hauptdarsteller Galliano Pahor, der als Jakovljevic das Leben und Sterben zu träumen scheint. Diese schattenhafte Annäherung wirkt freilich greifbar genug, um die verblichenen Geister spielerisch zu beschwören. Dem konnte sich Jakovljevics Sohn im Publikum so wenig wie Kroatiens Kulturminister Bozo Biskupic entziehen. Dieser, ein Mann der Tudjman-Partei, zeigte sich stark beeindruckt. Auch die kroatische Tagespresse jeder Couleur reagierte überwiegend enthusiastisch. Doch in vereinzelten Beiträgen und einem rechten Wochenmagazin beginnen schon wieder die Angriffe auf den Autor. So hat das Theater hier allemal Wirkung gehabt – und Mut bewiesen.
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