Ronald M. Schernikau: Im Gegenverkehr
Sehnsucht DDR: Er ging in den Osten, dann fiel die Mauer. Die Biografie des „letzten Kommunisten“ Ronald M. Schernikau.
Berlin, Hauptstadt der DDR, 9. November 1989. Nach einem Theaterabend schlendern der DDR-Bürger Ronald M. Schernikau und sein Westbesuch Michael Keck in Richtung Friedrichstraße, Tränenpalast. Ein Menschenauflauf. SED-Sprecher Günter Schabowski hatte kurz zuvor die Öffnung der Grenzen verkündet, die Posten lassen jeden durch. Die beiden jungen Männer treiben mit der Menge auf den Bahnsteig. Die Bahn kommt, Michael steigt ein. Ronald winkt zum Abschied, „dreht sich um und läuft gegen den Strom zurück zur Friedrichstraße“.
Die Szene, die Matthias Frings in seiner Biografie „Der letzte Kommunist. Das traumhafte Leben des Ronald M. Schernikau“ beschreibt, bringt die spektakuläre, tragische Geschichte des Autors und großen DDR-Sehnsüchtigen auf den Punkt. Schernikau, ein „rot-rosa Idealist“, ein Querdenker, ein Träumer. Erst zwei Monate zuvor, am 1. September 1989, war er – als letzter Westdeutscher – in die Deutsche Demokratische Republik eingebürgert worden. Für ihn war es „der Versuch, sich die Welt auszusuchen. Ich hatte zum Westen keine Lust.“ Und plötzlich ist überall Westen.
Wer war Ronald M. Schernikau? Zunächst: ein Heimatloser. 1960 in Magdeburg geboren, gelangt er als Sechsjähriger im Kofferraum eines Diplomatenautos in den Westen. Seine Mutter Ellen ist überzeugte Sozialistin, aber für ihre große Liebe gibt sie die DDR auf – nur um zu erfahren, dass der Mann verheiratet ist, zwei weitere Kinder und eine Hakenkreuzfahne an der Wand hängen hat. Zum zwölften Geburtstag schickt er Ronald eine Zeitschrift der rechtsextremen Wiking-Jugend. Antwort: „Herr Vater, dies ist nicht die Art Literatur, die ich lese. Anbei zurück. Sohn.“
Ellen Schernikau sitzt als Republikflüchtige im Westen fest, schlägt sich in Lehrte bei Hannover als Krankenschwester durch. Zuhause fühlt sie sich nie. Ihr Bild vom Sozialismus ist warm und konstruktiv. Ein Sehnsuchtsbild, das Eindruck macht: Mit 16 wird Ronald Mitglied der DKP. Kurz vor seinem Abitur 1980 erscheint seine „Kleinstadtnovelle“; die experimentelle, autobiografische Erzählung über einen schwulen, linken Schüler in der Provinz hatte er von der Mutter unbemerkt geschrieben. Schernikau wird mit einem Schlag berühmt. Das Buchcover zeigt ein stilisiertes Foto des jungen Autors, zerbrechlich, langhaarig, mit Flaum auf der Oberlippe.
So wird Schernikau noch immer aussehen, als sein Biograf Matthias Frings ihm im selben Jahr zum ersten Mal begegnet, in der Bar „Hoppla Sir“ am Hermannplatz. Vor allem erinnert der 1953 geborene Frings sich an Schernikaus Schönheit – „als hätte ihn sich Thomas Mann in einer schwachen Stunde ausgedacht“. Frings ist hingerissen: „Ich fürchte, ich sagte so etwas wie ,Hallo Hübscher‘.“ Von da an waren sie befreundet. Nur befreundet – im Bett lief nichts. Auch Frings ist Autor, schrieb in den achtziger Jahren Sachbücher über schwule Liebe, Sex und Pornografie, machte Radio, ging zum Fernsehen, konzipierte und moderierte die Show „Liebe Sünde“. Seit der Jahrtausendwende beschäftigte sich Frings jedoch ausschließlich mit Schernikau – und mit sich selbst. Denn sein Buch erzählt nicht nur die Geschichte von Ronald und seiner Mutter Ellen, sondern auch die von Frings. Der erzählt ausführlich, unterhaltsam, mit scharfem, auch politischem Blick und feinem ironischen Witz.
Der Kleinschreibdichter Schernikau war zum „schreiben, schwul sein, kommunist sein“ nach Westberlin gezogen. Er wohnt in einer muffigen Erdgeschosswohnung in der Großgörschenstraße. Seinen Unterhalt verdient er als Babysitter, schreibt Artikel für linke Blätter, für die „Siegessäule“. Neben dem Studium der Germanistik und Philosophie an der FU geht er zu den Sitzungen der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins, arbeitet nächtelang an Texten. Ein Besessener – sein Ventil ist die Albernheit. In Gesellschaft seiner Freunde wird Schernikau zur kreischenden Diva, trinkt Sekt, schleppt Männer ab. Sein Berufswunsch? "Schlagersängerin!".
Doch die Zeiten ändern sich. Die wilden, politisierten Achtziger werden cool, materialistisch. Auch davon erzählt Frings’ Buch. Vom schwulen Westberlin, von Liebe und Diskussionen, Büchern und Bars. Marianne Rosenberg und Alice Schwarzer treten auf, auch vergessene Künstler wie „Aurora, die tanzende Fleischwurst“. Und plötzlich ist da diese neue Krankheit, Aids, mitsamt spießbürgerlicher Hysterie. Schernikau ist überzeugt, HIV-positiv zu sein. Testen lässt er sich nicht. Er hat wichtigere Sorgen. Kein Verlag will seine Bücher drucken. Die „Lohnarbeit“ nervt ihn, er will ganz vom und für das Schreiben leben. In der DDR ginge das, es gibt Stipendien, Wohnraum, Schreibzeit. Zensur ist für ihn kein Thema: „Ich glaube, die DDR ... bringt die besseren Schriftsteller hervor.“ Mit dem von ihm verehrten Peter Hacks unterhält Schernikau einen höflichen Briefwechsel, Hacks ist es auch, der ihn ermutigt, DDR-Bürger zu werden.
1986, nach Abschluss des Kulturabkommens zwischen den beiden Deutschlands, wird Schernikau als erster und einziger Westler am Leipziger Literaturinstitut zugelassen. Eine Sensation. Drei Jahre verbringt er dort und hinterlässt eine hellsichtige Ost-West-Reflexion, „die tage in l.“. Untertitel: „darüber, daß die ddr und die brd sich niemals verständigen können, geschweige mittels ihrer literatur“.
Dennoch: Schernikau will, muss rüber. Es erfordert einen riesigen Verwaltungsaufwand, aber er bekommt den Pass. Dazu eine Stelle als Hörspieldramaturg im Henschel Verlag und eine Zweiraumwohnung in Hellersdorf. Gerade hat er seine im Westen gekauften Billy-Regale aufgestellt – da bricht die DDR zusammen. Auf dem Kongress der DDR-Schriftsteller im März 1990 sagt er enttäuscht: „Am 9. November 1989 hat in Deutschland die Konterrevolution gesiegt.“ Und: „Wer die Buntheit des Westens will, wird die Verzweiflung des Westens kriegen.“
Ronald M. Schernikau stirbt am 20. Oktober 1991 an den Folgen von Aids, er ist 31 Jahre alt. Nur wenige Wochen zuvor hatte er „legende“ fertiggestellt. 837 Seiten, ein letzter Kraftakt, ein Vermächtnis. Bibel und Fundgrube, voll mit Zitaten, Versen, Reflexionen. Magischer trifft sozialistischen Realismus, schreibt ein Rezensent. Begraben liegt Schernikau auf dem Friedrichshainer St.- Georgen-Friedhof. Ein Eckplatz unter einer Eiche.
Dass Matthias Frings’ Biografie nun erschienen ist, nach jahrelanger Arbeit und stundenlangen Interviews, dass sie sogar für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert ist – all das macht Ellen Schernikau froh und stolz. Mit dem Buch, sagt die heute 72-Jährige, lebe ihr Sohn weiter. „Ich bin glücklich, dass Ronald noch einmal in die Welt kommt.“
Matthias Frings: Der letzte Kommunist. Aufbau Verlag, Berlin 2009. 488 Seiten, 19,90 Euro.