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War bereits mit „Kruso“ für den Deutschen Buchpreis nominiert. Lutz Seiler auf Hiddensee.
© Ekko von Schwichow

Lutz Seilers Roman "Kruso": Im Bunde der Erleuchteten

Lutz Seiler erzählt in seinem großer Roman „Kruso“ von einer ungewöhnlichen Freundschaft auf Hiddensee - kurz vor dem Ende der DDR.

Inseln sind unwahrscheinliche Gebilde. Wer eine Insel betritt, hat den festen Boden unter den Füßen verloren – Inselwirklichkeit wankt. Eine der unwahrscheinlichsten Inseln aber dürfte Hiddensee sein. Hiddensee – verborgen im See? Verborgenheit im äußersten Norden der DDR, einem Raum der Totalüberwachung? Mit diesem unwahrscheinlichen Ort verband die deutsche demokratische Mythologie die radikalste Form des Aussteigertums, das innerhalb der Grenzen zwischen Elbe und Oder möglich war. Nach Hiddensee, vom Autoverkehr verschont und aus der Zivilisation gefallen, fuhr man in Lebenskrisen, zur Einkehr und Selbstfindung. Und: um Gedichte zu schreiben – oder wenigstens welche zu lesen. Auch das bedeutete Hiddensee: Poesie als Lebensform.

Lutz Seiler hat diesen unwahrscheinlichen Ort zum Schauplatz eines großartigen Romans gemacht. Enorme Assoziationsräume werden da eröffnet: Neben dem Topos des Insularen und dem politisch-historischen DDR-Gepäck, das genau diese Insel mit sich schleppt, ruft der Titel „Kruso“ nicht nur die gesamte Subgattung der Robinsonade mit Schiffbruch, Utopie und Religion auf, sondern Abenteuerlektüren von Defoe über Stevenson bis Jack London. Zudem läuft hier ein Bildungsroman ab, der verschiedene Formen von Freiheit und Wege zur Selbstbestimmung verhandelt.

Edgar Bendler, Seilers Protagonist und Perspektivfigur, flüchtet im Frühsommer 1989 aus einem Leben, das ihn über eine Bauarbeiterlehre und die so obligatorische wie desaströse Armeezeit zum Germanistik-Studium nach Halle geführt hatte. Dass der Unfalltod seiner Freundin ein Auslöser war, erfährt man erst später. Die Welt der Kohleöfen und Aschekästen hat er hinter sich gelassen, als er auf dem Berliner Ostbahnhof, einem Transitraum par excellence, erstmals auftaucht. Seine Arbeit über den Dichter Georg Trakl hat Ed zwar in Halle gelassen, die Verse aber bilden den Grundstock seiner „Bestände“, der verinnerlichten Literatur, die sich immer wieder zwischen die eigenen Wörter schiebt.

Im Gasthof „Klausner“, hinter dem nur noch der Leuchtturm Dornbusch, das letzte Fleckchen DDR und dann die Ostsee kommt, heuert Ed als Tellerwäscher an, er wird Saisonkraft, ein „Esskaa“. Hier lernt er Alexander Krusowitsch kennen. Kruso, schwarzes Haar auf weißem Hemd, ist Sohn eines Russen und ein Dichter, mal Buschbewohner, dann das Gegenteil eines Wilden. Kruso ist Statthalter und König der Insel, Guru und Organisator eines „Bundes der Erleuchteten“. Er versammelt diejenigen, die das Festland ausgespuckt hat, die eine unbestimmte Sehnsucht nach einer unbestimmten Freiheit in sich tragen.

Der Lyriker Lutz Seiler hat den Atem für einen 500-Seiten-Roman

War bereits mit „Kruso“ für den Deutschen Buchpreis nominiert. Lutz Seiler auf Hiddensee.
War bereits mit „Kruso“ für den Deutschen Buchpreis nominiert. Lutz Seiler auf Hiddensee.
© Ekko von Schwichow

Doch Freiheit, die ich meine, könnte Kruso sagen, liegt in uns selbst, sie hat nichts zu tun mit der dänischen Insel Møn, dem Ziel so vieler Fluchten. Dem Radio, aus dem der Deutschlandfunk Verkehrsmeldungen, Wasserstände und erstaunliche Nachrichten über die ungarische Grenze in den von Zeit und Raum abgekoppelten Gasthof funkt, hat Kruso mit einem Bierglas das Maul gestopft. Kruso verteidigt seine Insel. Doch seine Freiheit ist nicht die der „Esskaas“, geschweige denn die des ganzen Landes. Aus der verschworenen Gemeinschaft, die die Belegschaft des „Klausners“ einst bildete, verschwinden im Spätsommer 1989 erst der Eisverkäufer, dann das Tresenehepaar, schließlich sogar der Chef. Es bleiben Kruso und Ed, die eine emphatische, verstörende Freundschaft verbindet. Freitag und Robinson, Schüler und Lehrer eines Bildungsromans, vereint in Versen und traumatischen Verlusten.

Über Lutz Seilers Ausnahmestellung als Lyriker besteht seit mehr als zehn Jahren, seit den Gedichtbänden „Pech & Blende“, „Vierzig Kilometer Nacht“ und „im felderlatein“ kein Zweifel. Dass er Prosa schreiben kann, weiß man spätestens seit dem Bachmann-Preis für die Erzählung „Turksib“. Doch dass er Atem und Sprache auch für einen 500-Seiten-Roman besitzt, ist mit „Kruso“ erwiesen. Erstaunlich, wie unsperrig Seiler seine Sätze modelliert, ohne je in einen süffig-kulinarischen Ton zu rutschen. Überhaupt, der Ton: Als Ed die Gedichte seines Freundes zu einem Band ordnet, kann er „hören, dass es stimmte, er hörte den Ton“. In „Kruso“, so würde Ed als Leser sagen, „stimmt“ alles, man kann es hören. Es ist der Rhythmus dieser Prosa und ihre Bilder, in denen von „verbrauchter Anwesenheit“ oder dem „Vorhof des Verschwindens“ die Rede ist. Ein feines Kunststück ist, wie die Ereignisse ihre scheinbar einzig stimmige Erzählanlage finden, wie der Roman seine Motive unaufdringlich und doch stringent organisiert und unter seinem Ideen- und Weltreichtum doch nicht zusammenbricht.

Dass die Geschichte von Kruso und Ed keine austauschbare Flucht- und Freundschaftsgeschichte bleibt, hat mit dem Land zu tun, dessen Anspruch, alles zu reglementieren und zu überwachen, das Private zum Politischen macht. Eds Stoßgebet – „Ich möchte einen Platz auf der Welt, der mich aus allem heraushält“ – spiegelt den Wunsch nach der unpolitischen Nische, der die letzten Jahre der DDR-Gesellschaft stark prägte und so eminent politisch war. Die abgeklärte Perspektive der um Kruso versammelten Schiffbrüchigen – „Was war schon der Staat?“ – übersah, dass totalitäre Staaten sich gerade um jene kümmern, die sich für den Staat nicht interessieren.

Ja, Seilers Literatur, sei es in Versen oder Prosa, schöpft aus der DDR als einem Sozialisationsraum. Von seinem durch den Uran-Bergbau geschliffenen Heimatort Culmitzsch bei Gera bis zum „Klausner“ auf Hiddensee. Den Gasthof gab (und gibt) es ebenso wie es die im Roman erzählten Stasi-Erpressungen und Strahlenforschungen gab. Selbst den Typ Krusos hat es gegeben, ganz wie Eds Lektüreerwachen mit Trakl, Rimbaud und Artaud sowie diese besondere Ahnung von Freiheit am Ende der DDR. Viele werden in Seilers Fiktionen Versatzstücke des eigenen Lebens wiedererkennen. Für die Qualität dieser Literatur ist das freilich ohne Belang. Preise werden ihr mit geradezu naturgesetzlicher Folgerichtigkeit zuwachsen.

Schon zu Beginn hatte der Pächter des „Klausners“ beobachtet, dass seine Insel, gemäß den Gesetzen alles Insularen, Land ans Meer abgibt und schrumpft. Mit ihr schrumpft der Raum des Utopischen. Der Roman aber denunziert weder die Freiheitsidee der Leute, die nach Møn wollen, noch diejenige Krusos. Ein Epilog, der Ed selbst zum Erzähler macht, stellt alles Vorangegangene in den Schatten der Opfer, der Tragik und Verzweiflung, die das Land DDR zu verantworten hat. Zugleich aber leuchtet „Kruso“ die Möglichkeiten eines richtigen Lebens im falschen aus und produziert emotionale sowie intellektuelle Ambivalenzen. Diese Verstörung ist es, die große Literatur ausmacht.

Lutz Seiler: Kruso. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014. 484 Seiten, 22,95 €.

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