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Festival d'Avignon
© Chr. Raynaud de Lage

Festival d’Avignon: Im Anhang war das Wort

Zum Auftakt des 61. Festival d’Avignon: Valère Novarinas zarte Poesie und Rodrigo Garcias brutaler Karneval.

Der Mann hält zwei Reagenzgläser in den Händen. In dem einen ist eine klare Flüssigkeit, die andere ist blutrot. Die erste steht für die von Wünschen der Menschen geprägte Geschichte, die andere für die beliebigen, von animalischen Zufällen und von chemischen Abläufen geprägten Chronik. Dann gießt er beide Flüssigkeiten auf den Bühnenboden und stellt fest: Das Ergebnis ist das gleiche. Vergossen die Geschichte. Nicht mehr zu retten die Essenz der Vergangenheit. Aber dann sagt dieser von Dominique Pinon gespielte kosmische Clown, dass es doch auch die Sprache gibt, eine Art Wasser mit umgekehrter Fließrichtung. Mit ihr kann die Geschichte durch die Menschen in die Gegenwart zurückströmen.

Wir sind mitten im „Acte Inconnu“ von Valère Novarina, in Avignon, und an der Stelle mit der programmatischsten Aussage. Der große Poet sieht alle Wasser des Lebens in der Sprache eingefangen. Die vom Autor selbst eingerichtete Uraufführung ist eine entzückte Meditation über die Sprache als Mittlerin zwischen kruder Natur und göttlicher Inspiration und lädt zugleich zu einer Reise in die Kindheit der Zuschauer ein, als man mit Worten nicht nur solide, sinnvolle Aussagen treffen konnte, sondern aus purem phonetischen Spaß die Macht hatte, Fantasiewelten auszurufen.

Bei Novarina ist dies das Land Üt oder die Stadt Ürlü, wo die Menschen von Mü wohnen oder Ichgeten, Galater, Sepulkraten, Kruziverbisten und viele andere Neologismen und Wortgremlins. In bunten, leicht poppigen Fantasiekostümen treten die Akteure auf. Sie steckenen nicht in Rollen, sondern funktionieren als Sinnbilder, als Allegorien, die der „Nihilmann“ heißen, oder die „Pik-Dame“, oder „das Gegensubjekt“ oder der „Mensch von Stalingruh“. In diesem am besten mit Kinderaugen anzuschauenden Kabarett ist, vom Wunsch des privaten Glücks bis zur leeren Rhetorik der Politiker, sogar bis zum französischen Wahlkampf auch alles Zeitgenössische vorhanden.

Nach Konya in die Türkei ist der Autor einmal gepilgert, zu den Derwischen, und am liebsten sähe er auch seine Sprache auf der Stelle kreiseln, um mit einer Hand nach den Sternen zu greifen und der anderen ins Innere der Erde. Mit Novarina darf der Zuschauer ein göttliches Lächeln in sich aufblühen lassen.

Nach einem solchen Start in verzauberte Wortwelten möchte man sogar für möglich halten, was sich dieses traditionell ziemlich unbescheidene, weil zu Menschheitsheilung aufgerufen fühlende Festival von Avignon in diesem Jahr vornimmt: die Poeten vorschicken, um uns Kommunikationsgeschädigten neue Frei- und Denkräume zu öffnen. Ein Jahr der Sprache, nicht der Schauspieler, nicht der Regisseure soll es werden. Der inszenierende Autor ist gefragt, der Auteur-Metteur-en-Scène. Das entspricht einem alten französischen Traum – die vollständige Erschließung der Welt durch Worte und Literatur. Gut, dass es da auch die Ausländer gibt, die in ihre Bühnenwelten noch mit den Säften der Kreatur schreiben, wie der in Argentinien aufgewachsene Rodrigo Garcia.

Bei ihm feiert eine Horde von argentinischen Jugendlichen einen lauten Karneval auf der Bühne im Hof des Karmeliterklosters. Es sind leibhaftige Murgueros, die Rodrigo Garcia bei einer Reise in seine argentinische Heimat kennengelernt und für sein Stück über die Murga, den argentinischen Karneval, engagiert hat: Jugendliche aus den Armenvierteln, die schon als Kinder mit harten Drogen und Gewalt zu tun hatten.

Ihre Körper sind das Material für ein Stück mit dem provozierenden Titel „Cruda, Vuelta y vuelta, Al punto. Chamuscada“ – Bezeichnungen für den Garzustand des Fleisches auf einem Grill. Rodrigo Garcia, der in seiner Jugend in der Fleischerei seines Vater gearbeitet hat, operiert mit seinem Carnicería-Theater nah am Ekel, immer auf der Suche nach der Grenze, an der in der Wahrnehmung des Publikums in der Ersten Welt die Probleme der Dritten Welt jeden pittoresken, exotischen Reiz verlieren. Mehlwolken stäuben auf, mit Wasser wird gespritzt, Rasierseife wird verschmiert, Ketchup vergossen – die Installation richtet sich gegen die Konsumwarenwelt.

Der Autor und Regisseur hat einfache Fragen und Aussagen formuliert und lässt sie auf einen großen Bildschirm projizieren. Es sind provozierende Fragen nach dem Zustand der Vitalität der von Wohlstandsproblemen neurotisierten Menschen in Europa und Nordamerika. Wenn er allerdings die impulsive Kraft der Murga, diesem Tanz, in dem noch die schwarzen Wurzeln des argentinischen Karnevals zu ahnen sind, vor der barocken Emphase einer aufprojizierten Malerei vorführt, ist neben dem schönen optischen Effekt plötzlich eine etwas simple Rechnung aufgemacht: Kraft der Gefühle, Pathos, Ausgelassenheit, einst auch europäische Lebenskraft, nun ausgewandert in die Dritte Welt? Erreichbar für die Augen des Abendlandes nur noch als ferne Exotik oder Ausstellungsware im Museum?

Und doch lässt sich zum Auftakt in Avignon ahnen, dass der Versuch des Festivalchefs Frédéric Fisbachs, Mensch und Schrift, créature und écriture, in Beziehung zu bringen, aufgehen könnte. Die großen Stars bleiben dieses Jahr außen vor: bis auf eine einmalige öffentliche Lektüre im Papstpalast. Sami Frey und Jeanne Moreau lesen da „Quartett“ von Heiner Müller, umsonst und draußen.

Eberhard Spreng

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