Russische Avantgardekunst in Wien: Ikonen des Alltags
Ein solches Panorama der russischen Avantgarde hat es lange nicht gegeben. Die Wiener Albertina zeigt Bilder von Kandinsky, Malewitsch und El Lissitzky. Doch in der frühen Sowjetunion gerieten die Neuerer schnell in die Defensive.
Eine Gruppe von 16 Bauern, Männern, Frauen, Jungen hat sich um einen Radioempfänger versammelt, einen unförmigen Trichter. „Man lauscht einer Rede Stalins“, ist das Gemälde betitelt, das Wladimir Malagis 1933 in repräsentativem Breitformat geschaffen hat. Es reduziert die Personen auf einprägsame Typen, um den monumentalen Gesamteindruck zu betonen. Hier sind Bauern und hören eine Rundfunkansprache des „Woschd“, des „Führers“, des allmächtigen Generalsekretärs der Partei. Licht fällt von oben auf die Gesichter, doch so, dass der Lautsprecher die Lichtquelle zu sein scheint. Die geistige Lichtquelle ist er allemal, denn Stalins Worte sind die Offenbarung.
Familienidyll als Propaganda
Im selben Saal der Ausstellung „Die Russischen Avantgarden“ in der Wiener Albertina hängt ein anderes Interieur. Es zeigt eine Familie, Vater, Mutter und zwei kleine Kinder, doch nicht als Gruppe, sondern voneinander getrennt; getrennt durch die Angst, die sie teilen. Der Vater späht aus dem Fenster, die Mutter hält schützend ihre Hände um die Tochter, nur das Baby schläft. Kusma Petrow-Wodkin hat sein Gemälde von 1934 „Das Jahr 1919: Unruhe“ genannt und Details eingestreut, die diese Datumsangabe beglaubigen sollen; 1919 war ein Jahr des Bürgerkriegs. Doch es ist ein Bild der allgegenwärtigen Angst vor dem Terror der Geheimpolizei, die immer mehr Menschen verhaftete.
Dieser letzte Saal der Ausstellung ist der überraschendste. Er zeigt eben keine Avantgarde mehr, sondern die Anpassung der Künstler an die – höchst unpräzise – Doktrin des „Sozialistischen Realismus“. Die richtig parteifrommen Schinken sind in der Albertina nicht zu sehen; die Vorführung des schleichenden Übergangs hingegen ist eine Stärke dieser Ausstellung, die sich ganz überwiegend aus Leihgaben des Russischen Museums St. Petersburg zusammensetzt. Es handelt sich um ein Panorama, dessen einzelne Kapitel Einblick geben in die einander überlappenden Strömungen im vor- und nachrevolutionären Russland.
Eine solche Dichte von unterschiedlichen Richtungen hat es nirgends sonst gegeben. In Wien wird Anfang und Ende kenntlich gemacht; das Ende mit dem „Sozrealismus“, der Anfang mit der Petersburger Akademie. Da genügt eine große Aktszene, „Das Bad“ von 1913, um zu zeigen, wogegen sich die Avantgarde mit ihrer Anlehnung an russische Volkskunst wendet: Michail Larionows „Venus“, ebenfalls von 1913, spottet jeder akademischen Körperdarstellung. Überhaupt betont die Wiener Auswahl den Rückgriff auf Elemente von Heimatkunst und Alltagsikonografie, zeigt zugleich jedoch den starken Einfluss aus Paris, durch Kubismus und – in Paris zur Geltung gelangten – Futurismus.
Chagall war der Gründervater
Ein eigener Saal ist Marc Chagall gewidmet, der seine produktivsten Jahre als Leiter der 1918 gegründeten Kunstschule in seiner Vaterstadt Witebsk verbringt. Er beruft Kasimir Malewitsch und El Lissitzky, die ihm beide künstlerisch fernstehen, der eine als Begründer der Kunstreligion „Suprematismus“, der andere als Praktizierer eines „nützlichen“ Konstruktivismus. Den beiden auch im Westen hinlänglich bekannten Hauptvertretern der russisch-sowjetischen Avantgarde wird angemessener Platz eingeräumt, doch dann überrascht die Ausstellung wieder mit einem Zwischenkapitel: Boris Grigorjew, der einen Gemäldezyklus „Russland“ schafft, von Kubismus und Cézanne gleichermaßen angehaucht, doch schockierend direkt. Von ihm stammt das grandiose, überlebensgroße Bildnis des Theatermagiers Wsewolod Meyerhold von 1916, noch ganz als Dandy, bevor er sich der Revolution dienstbar machte.
Wassily Kandinsky wird mit den in Sowjetrussland verbliebenen Gemälden vorgestellt; 1914 aus Deutschland vertrieben, musste sich Kandinsky in Moskau zunächst mit kleinformatigen Aquarellen begnügen, ehe er als Leiter des Kunstinstituts INChUK wieder Gemälde schaffen konnte – von denen er etliche an die neu gegründeten Provinzmuseen gab. Hochinteressant sind die Beispiele für Propagandakunst, für „Agitprop“: Plakate von Michail Wexler in eigener Typografie, Glasbilder Sofia Dymschitz-Tolstaja. Dann kommt Malewitsch ein zweites Mal zu voller Geltung: mit seinen späten figurativen Arbeiten, die meist als Anpassung an die Realismus-Doktrin verstanden werden, von Boris Groys im opulent bebilderten Katalog jedoch als Ausfluss der späten Theorie des Malers von den „visuellen Bazillen“.
Kunst auf der Anklagebank
Kurze Filme, montiert aus Wochenschauen und Spielfilmsequenzen, geben in der Ausstellung eine leise Ahnung von den zeithistorischen Umständen, unter denen diese Kunst entstand, vom späten Zarenreich über den Weltkrieg zu Revolution und schließlich Industrialisierung. Die Besucher strömen nur so in die Albertina, die sich mit dieser Ausstellung endgültig ihrer Beschränkung auf die Grafik entledigt und in der Hauptsache Gemälde zeigt. Ein solches Panorama der russischen Avantgarde(n) hat es lange nicht gegeben. Doch Vorsicht: Auch im frühen Sowjetrussland war die Avantgarde in der Minderheit und weit eher in der Defensive, als das Schlusskapitel der Ausstellung mit Arbeiten aus den dreißiger Jahren vermuten lässt.
Wien, Albertina, bis 26. Juni. Katalog 29 €. www.albertina.at
Bernhard Schulz
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