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Die Mädchengang. Zweite von rechts: Marieme (Karidja Touré).
© peripher

Jugend in der Banlieue: "Bande de filles": Ihr eigener Kerl

Schutzgeld und Schminktipps: „Bande de filles“ von Céline Sciamma erzählt von der Selbstfindung einer 16-Jährigen in der Pariser Banlieue.

Die Gang braucht Urlaub. Erpressung um Erpressung haben sie auf dem Schulhof hinter sich gebracht, den Mitschülerinnen kleine Scheine als Schutzgeld aus den Rippen geleiert. Jetzt können die vier Mädchen sich ein Hotelzimmer leisten, machen sich schick, trinken Whisky, rauchen Haschisch. Doch statt anschließend durch die Pariser Clubs zu schwärmen, bleiben sie im Zimmer und tanzen zum Rihanna-Song. Ausgelassen inszenieren sie einander als Königinnen der Nacht, wiegen sich in den Rhythmen und fallen sich übermütig in die Arme. Einen Abend lang nicht an die Familie denken. Einen Song lang nicht an den Block.

Knochenharte Vorstadtjugend: Regisseurin und Drehbuchautorin Céline Sciamma schildert die Banlieues von Paris als streng hierarchisierte Gesellschaft. Die Hackordnung zeigt sich in ständigen Dominanzgesten, vielleicht gerade bei den Mädchen. Als Marieme ihre jüngere Schwester erstmals beim Herumhängen auf der Straße erwischt, schlägt sie sie, zum ersten Mal.

Müde Mutter, böser Bruder

Marieme, die 16-Jährige, übernimmt ansonsten liebevoll die Verantwortung für ihre beiden jüngeren Geschwister. Die Mutter geht putzen und ist desinteressiert, der ältere Bruder so wortkarg wie brutal. Marieme fügt sich in ihre Rolle, aber sie wagt auch etwas. Zum Beispiel verliebt sie sich in einen Freund des Bruders und als Lady, die Anführerin einer verschrienen Bande, ihr die Aufnahme anbietet, oder besser: sie mit dem Angebot herausfordert, sagt Marieme „Oui“.

Mit ihr taucht der Film in eine auf den ersten Blick widersprüchliche Welt ein. Wie ihre Altersgenossinnen von den noblen Schulen der Innenstadt interessieren sich die Mädchen für Schmuck und Klamotten, durchkämmen Läden, lieben Nagellack. Treffen sie aber auf andere Ghettokids, wird umstandslos gepöbelt, wie im Testosteronrausch. Auch untereinander pflegen die vier einen rauen Ton, der jedoch schnell mal umschlägt in Gelächter und Umarmungen. Um ihren Territorialanspruch zu untermauern, stellt sich Lady dem Zweikampf mit der Anführerin einer anderen Gang und wird heftig zusammengeschlagen. Will Marieme Teil dieser Welt bleiben, braucht sie unbedingt die neuen Michael-Jordan-Edition-Sneaker in Weiß. Und ein Messer.

Jenseits traditioneller Geschlechterbilder

Die Filmemacherin Sciamma ist fasziniert davon, wie hier traditionelle Geschlechterbilder aufweichen. Schon in den Vorgängerfilmen suchten junge Mädchen nach ihrer sexuellen Identität, verorteten sich zwischen weiblich und männlich geprägten Ritualen. In „Bande de filles“ geschieht dies fast beiläufig: Die pubertierenden Mädchen nehmen bei aller Begeisterung für Schminktipps pragmatisch den Kampf mit ihrer Umgebung auf. Allerdings geht es um mehr als bloß um Frauen, die die Fäuste ballen können. In intim stillen Szenen erscheint Mariemes Geliebter Ismael (Idrissa Diabaté) als sanfter, beinahe femininer Typ. Marieme schneidet sich für ihren neuen Job als Dealerin die Haare kurz, hängt mit den Kerlen herum und schnürt sich die Brüste ab, um männlicher zu wirken. Die Ambivalenz aber bleibt – auch dank der großartigen Hauptdarstellerin Karidja Touré, in deren Gesicht sich die Kamera gerne verliert. Touré spielt zurückhaltend und unterlegt die Sanftheit ihrer Züge mit einem Ausdruck von Unterwürfigkeit, der höchst glaubwürdig ins Angriffslustige, gar Verschlagene kippen kann.

Zwischen solchen Einstellungen arbeitet die Regisseurin mit Zeitsprüngen, erzählt episodenhaft und schafft immer wieder Momente großer Nähe, indem sie ihren wortkargen Protagonistinnen viel Raum und Ruhe gönnt. Die Viertel Bagnolet und Bobigny allerdings, die als Handlungsorte benannt werden, wirken wie eine merkwürdig sterile Studiovariante der Originalschauplätze. Auch gibt es kaum Komparsen, was viele Szenen künstlich wirken lässt. Zusammen mit der sparsam dosierten Musik entsteht eine bewusst theatrale Atmosphäre, was zu Mariemes Aufwachsen aber eine unnötig große Distanz schafft. Die schwindet erst, wenn die Kamera einmal mehr auf Tuchfühlung mit der Suchenden geht.

In Berlin: Brotfabrik, fsk am Oranienplatz und Hackesche Höfe Kino (alle OmU)

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