Frauen und Männer: Ich will sterben dürfen
Der Vater vegetierte am Ende mehr, als dass er noch lebte. Unser Autor wünscht sich einen besseren Tod. Wer soll ihn daran hindern? Eine Streitschrift.
Neulich, auf einem Dreitausender in der Schweiz, überstieg ich das eher symbolisch gemeinte Holzgeländer und sah in die Tiefe, die mit wenigen Schritten und ohne weitere Umstände erreichbar war. Ich hätte springen können oder mich einfach fallen lassen. Erstaunt hat mich nicht die sportliche Art, mit der hier vor solchen Abgründen gewarnt wird, sondern die Tatsache, dass ich offenbar auf der Suche bin nach todsicheren Gelegenheiten. Ich war mir dessen nicht bewusst gewesen. Lebensmüde bin ich nicht, meine Tage sind noch prall gefüllt mit Arbeit und Familie. Und doch bin ich offenbar auf der Suche nach einer Chance, beizeiten aus dem Leben zu gehen, solange ich noch selbst darüber entscheiden kann. Als ich abstieg und darüber nachdachte, wurde mir bewusst, wie unwürdig diese heimliche, sogar vor mir selbst verborgene Suche ist.
Nachdem ich bei voller Berufstätigkeit in zwei Ehen acht Kinder großgezogen und zuletzt sogar noch ein Haus gebaut habe, werde ich, vielleicht in zehn Jahren, lebenssatt und bereit sein, mich zur verdienten Ruhe zu begeben. Und dann will ich sterben, anstatt mich totpflegen zu lassen auf die jämmerliche Weise, wie es meinem Vater geschah. Ich konnte das nicht verhindern, konnte sein langes Siechtum nicht abkürzen, doch für mich selbst suche ich rechtzeitig nach einer besseren Lösung. Wenn meine Zeit gekommen ist, will ich mich nicht in die Obhut einer Gesellschaft fallen lassen, die schon jetzt bei der Altenpflege an ihre finanziellen und moralischen Grenzen gelangt und parallel dazu immer neue lebensverlängernde Mittel ersinnt, einer Gesellschaft, die keine Antwort weiß auf meine Frage nach dem Guten Tod.
Neulich fuhr ich mit der Fähre nach Schweden, um das Sommerhaus meines Vaters zu verkaufen, meines Vaters, der keinen guten Tod hatte, der in seinem Heim zuletzt mehr vegetierte als lebte, und der sich vor seiner Demenz gewiss dafür entschieden hätte, sich und uns diese Lebensphase zu ersparen. Wenn wir aufs Sterben zu sprechen kamen, hatte er stets eine neue Patentlösung parat, zuletzt hatte er die Idee, sich mit gutem Whiskey im Blut bei einer winterlichen, nächtlichen Ostseeüberfahrt über die Reling kippen zu lassen. Es kam dann doch anders.
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Neulich im Wartezimmer meines Zahnarztes nehme ich eine der herumliegenden Zeitschriften zur Hand und lese etwas von Altersdepression: „Es sind oft unerkannte Depressionen, die alte Menschen zu suizidalen Handlungen veranlassen, Depression ist eine Krankheit, die man heilen kann, es gibt …“ Ich lese nicht weiter. Neben dem Artikel strahlt mich ein rotbäckiges Seniorenpaar an. Ich fühle mich angewidert, weil ich vermute, solche „Ratgebertexte“ haben nur den Zweck, ein werbungsförderndes Umfeld für Geriatrika-Anzeigen darzustellen. Sterbenwollen ist keine Krankheit. Im Gegenteil. Krank ist, wenn man nicht sterben wollen darf. Krank ist dieses Verbot jeglicher Art von Lebensmüdigkeit. Das Leben um jeden Preis erhalten zu wollen, ist die Rückseite von Lebensleere. Ein reiches Leben lässt sich lassen, ein leeres wartet immer auf Erfüllung, bis über den Tod hinaus.
In diesem Zahnarztwartesaal wird mir bewusst, dass an meinem überlangen Alter niemandem gelegen ist außer den Senioren-Industrien. Die werden für mein pausbäckiges Verdorren jene Staatsmittel verbrauchen, die meine Kinder jetzt so nötig hätten, um, zum Beispiel, unter angemessenen Bedingungen studieren zu können. Ich werde diese Missverteilung gesellschaftlicher Mittel zugunsten von uns Alten nicht ändern können. Aber ich will auch nicht unfreiwillig davon profitieren. Tatsächlich profitieren ohnehin ganz andere, und sie werden mir schon auf die seniorengerechten Sprünge helfen, wenn ich so töricht bin, mein Leben mit ihrer Hilfe über das Ende hinaus verlängern zu lassen. Wir bilden uns so viel ein auf unsere Freiheit. Warum sind wir in diesen Dingen so unfrei?
Ich will sterben dürfen, wenn ich dafür reif bin. Meine innere Stimme sagt mir in diesen Dingen die Wahrheit, ich kann mich ganz und gar auf sie verlassen. Ich will auf zivilisierte Art sterben, bevor ich an ihren Schläuchen hänge und mich dagegen nicht mehr wehren kann. Und damit tagtäglich das Geld verbrauche, das meine Kinder an ihrem Studienort über den ganzen Monat bringen würde. Ich halte meinen Wunsch für vernünftig. Doch wenn ich ihn dereinst äußere, werde ich als potenzieller Selbstmörder mit teuren Happypillen gefüttert.
Unsere Vorstellungen vom „Selbstmord“ stammen aus Zeiten, da Sterben an der Tagesordnung war: hohe Kindersterblichkeit, viele unheilbare Krankheiten, Kriege, Seuchen, Hungersnöte, Mord und Totschlag. Man hatte gefälligst am Leben zu bleiben, wenn man es denn so weit gebracht hatte, erwachsen zu werden. Man durfte sein brauchbares Erwachsensein der Gemeinschaft nicht stehlen, die immerhin etliches darein investiert hatte. Dieser Ruch des Freitods hat sich bis heute erhalten, aber er hat für uns überjährige Alte seinen Sinn verloren.
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Der römische Philosoph Seneca lud seine engsten Freunde ein, setzte sich mitten unter sie in ein warmes Wannenbad und ließ sich von seinem Arzt die Pulsadern öffnen. Derlei gälte heute als abartig: Tod auf Verlangen. Wäre er gestattet, könnten ihn wohl auch andere von mir verlangen, mehr oder weniger diskret. Die erbberechtigten, die pflegenden Angehörigen, vielleicht auch der Staat selbst, wie es Aldous Huxley in seinem utopischen Roman „Brave New World“ prophezeit. Da wird das sozialverträgliche Ableben als erzwungene Freiwilligkeit beschrieben. Horrorszenarien, die vor allem eines zeigen: Das Thema ist negativ konnotiert, und von einer sachlichen Debatte auch über die Gefahren, erst recht von einer Kultur des selbstbestimmten Sterbens sind wir weit entfernt.
Die Meinen sollen mich in guter Erinnerung behalten. Das wird ihnen schwerfallen, wenn ich ihnen die Jahre meines mit allen Hilfsmitteln hinausgezögerten Dahinscheidens nicht erspare. Ich könnte es ihnen nicht verdenken, wenn sie mich, den auf ihre Kosten siechenden Alten, des Generationen-Egoismus bezichtigten. Meine drei studierenden Kinder haben Studiengebühren zu zahlen, die sie vom Bafög nicht abzweigen können. Sie müssen nebenbei arbeiten, was bei den heutigen kompakten Studiengängen kaum mehr möglich ist. Ihr Studentenleben ist ungleich härter, als es meines war. Wie gern würde ich wenigstens einen Teil dessen, was ich den Renten-, Kranken- und Pflegekassen durch mein rechtzeitiges Ableben ersparte, ihnen zugutekommen lassen, etwa über eine „Stiftung Bildung“. Das hätte für mich mehr Sinn als die ganze Seniorenbespaßung.
Ich sehe in die Gesichter der Alten in den Reisebussen, an den Flugschaltern, in den Eventrestaurants und frage mich, wie viele von ihnen lieber das Zeitliche segnen würden, wenn es ihnen denn erlaubt wäre. Man nötigt uns zu kollektivem Egoismus: Wir sollen so jung tun, wie wir gar nicht sind, weil man uns als Verbraucher braucht. An uns Jungfrischalten wird so viel mehr verdient als an allen anderen Altersgruppen, dass wir bestimmten Wirtschaftszweigen unentbehrlich scheinen. Mit ihrer Werbung legen sie uns eine Anspruchshaltung nahe, die nur ihnen nützt und allen anderen schadet. Wenn ich zu lange auf der Welt bin, werde auch ich irgendwann kindisch genug geworden sein, um nach alldem geriatrischen Schnickschnack zu verlangen. Und so nicht nur die Zukunft meiner Kindeskinder verspielen, sondern auch ihren Respekt.
"Und bitte, bitte keinen Rollator!" Weiter auf der letzten Seite.
Neulich im Wartezimmer wusste ich plötzlich: Ich will das alles gar nicht, was da in den übernächsten Jahren auf mich zukommt. Nicht diese schmerzhaften Rettungsversuche eines verbrauchten Gebisses, ich habe genug gegessen in meinem Leben. Ich will keine Brücken und Kronen und Zahnbettreinigungen mehr. Ich will auch keine Vorsorgeuntersuchungen an meinem alternden Leib, keine Prostata- und Darmspiegelungen, ich habe genug gezeugt und ausgeschieden. Dies ist kein Blues, sondern ein Rap: Keine teuren Pillen, kein Seniorensalat, keine neuen Brillen, keinen Hörapparat. – Und bitte, bitte keinen Rollator.
Ich habe keine Angst vorm Tod, vor dem Nicht-sterben-Dürfen habe ich Angst. Ich würde meinem Ableben gelassener entgegensehen, wenn ich wüsste, dass ich mit dem Sterben nicht so alleingelassen werde, dass mir dabei mit derselben medizinischen Kunstfertigkeit geholfen wird, mit der man mir hülfe, wenn ich krank wäre und Aussicht auf Genesung bestünde. Unsere moderne Medizin schafft Möglichkeiten und Zwänge. Über diese Zwänge und die damit zusammenhängenden Tabus, über ein unvernünftiges Sterbeverbot sollten wir nachdenken und reden dürfen. Über den Guten Tod, Eu Thanatos, der in Deutschland so einen furchtbaren Nachhall hat.
Ich will meinen Kindern davon erzählen, was es für meine Mutter bedeutet hat, sich über Jahre hin meiner bettlägerigen Großmutter zu widmen. Wie sie darunter gelitten hat, wie ihr die Liebe zu ihrer Mutter dabei abhanden kam und sie zuletzt nur noch wünschte, sie könne sie und sich erlösen. Ihre Schwester hat sich mit weit über 80 noch die Augen operieren und die Ovarien entfernen lassen, und als ich sie fragte, ob sie das hätte mit sich machen lassen, wenn sie die Wahl gehabt hätte, stattdessen sanft zu entschlafen, tat sie ganz erstaunt über meine Naivität: „Diese Wahl gibt es nicht für meine Generation“, sagte sie, „vielleicht für euch Jüngere, zu wünschen wäre es euch.“ Davon will ich meinen Kindern erzählen und sie bitten, meinem selbstbestimmten Ableben zuzustimmen.
Ich will mich nicht davonstehlen und einen wer weiß wie missratenen Suizid hinlegen, sondern ganz offiziell und mit dem Einverständnis aller, ohne Heuchelei und falsche Tränen in die Ewigen Jagdgründe hinübergehen. Ein großes Fest will ich geben zu meinem Siebzigsten, alle Kinder und Enkel will ich einladen. Ich will ihnen verkünden, dass ich morgen nicht mehr leben werde, weil der medizinische Fortschritt nicht nur Leben verlängern, sondern auch schmerzfrei beenden kann, und weil man inzwischen sterben darf, wenn man das will. Dann sollen sie mir Beifall zollen, und ich will es nicht missverstehen als Zeichen, dass sie mich nicht lieb haben, sondern recht verstehen als das Gegenteil. In zehn Jahren, hoffe ich, sind wir so weit.
Der Autor, 60 Jahre alt, ist Schriftsteller
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