Enttarnte Autorin: Ich will nicht wissen, wer Elena Ferrante ist
Elena Ferrante zog das Pseudonym vor. Jetzt wurde offenbar ihre Identität enthüllt. Dabei sollten doch allein ihre Bücher sprechen. Eine Kolumne.
Jeder kennt diese so wichtige Zäsur in der Kindheit. Der Tag, an dem man entdeckt, dass der Nikolaus nur ein verkleideter Erwachsener ist. Ich erinnere mich genau an dieses paradoxe Gefühl: strahlender Triumph, erschütternde Enttäuschung. Am Abend eines 6. Dezember platzten mein Sohn und seine Freunde in die Küche hinein und schrien: „Wir wissen, wer es ist!“ Der Nikolaus war gerade bei uns vorbeigekommen. Etwa 20 Kinder waren versammelt. Verschüchtert und fasziniert griffen sie, einer nach dem anderen, in den großen, prall gefüllten Beutel, und zogen Mandarinen und Schokolade heraus.
Doch die älteren Kinder waren misstrauisch und bohrten. Beim Durchsuchen des Treppenhauses entdeckten sie die Kleidung des Hochstaplers, verstreut auf dem Boden der Etage darüber. „Er ist es!“, schrien die Kinder und zeigten mit dem Finger auf einen Familienfreund, der gerade, in Zivil, zurück in die Wohnung gekommen war und behauptete, er sei durch Zufall in der Nähe gewesen, und wollte kurz vorbei schauen. Er saß am Küchentisch und trank ein Glas Wein. Die Kinder haben die List der Erwachsenen durchschaut und sich so selbst in die Welt der Vernunft eingeladen. Gleichzeitig aber haben sie sich für immer der Magie des Geheimnisses entzogen.
Sie wollte nicht Teil des Medienkarussells sein
Ein sehr ähnliches Gefühl überkam mich diese Woche, als ich die Identität von Elena Ferrante erfuhr. Seit vielen Wochen begleitet mich die italienische Autorin, die gerade erst in Deutschland entdeckt wurde. Eine Intimität hat sich zwischen uns entwickelt, unter dem Licht der Nachttischlampe. Bis jetzt waren wir mit uns allein und zufrieden, und draußen schlief Berlin. Es war belanglos, wer hinter der Stimme steckte, die mir Nacht für Nacht zusprach. Ich wusste weder ihr Alter noch ihre Haarfarbe. Ich wusste nicht, ob sie morgens, vollgepumpt mit Koffein, im Bademantel oder angezogen arbeitet, was sie über das Wintergrau des Himmels oder den Erfolg der AfD denkt. Aber ich hörte ihre Stimme, ganz nah.
Elena Ferrante zog das Pseudonym vor, sie wollte nicht Teil des Medienkarussells sein, der Talkshows und Home Stories. Wie erfrischend, zu einer Zeit, da Schriftsteller medial bewandert und gutaussehend sein müssen, eloquent und dem kleinen, spritzigen Skandal nicht abgeneigt. Performer, die Fernsehzuschauer zum Lachen bringen und Lesungsgäste mitreißen. Elena Ferrante wurde nicht gefragt, zu allem ihren Senf dazu zu geben, im Namen weiß Gott welch universaler Expertise. Das hat das Lesevergnügen nicht verringert. Ganz im Gegenteil: Aufzulösen scheinen sich heute viele Bücher, hinter allseits prominenten Autoren, von der Marketingabteilung zurechtgeschneidert. Wie viele Texte von erhabener Schönheit wurden von Schriftstellern produziert, die schüchtern sind, oder die ihr Privatleben schützen wollen? Elena Ferrante ist eine von ihnen und ich finde sie so mutig wie weise, darauf zu beharren, sich verstecken zu dürfen, um zu schreiben. Das einzige, was für ihre Literatur sprach, war der Text und nichts anderes. Und er sprach laut und deutlich.
Methoden eines obsessiven Stalkers
Elena Ferrante wurde Opfer einer Hetzjagd. Ein Journalist schnüffelte in den Kontoauszügen ihres Verlegers herum, durchwühlte die Grundbücher nach ihren Immobilien, entdeckte eine Lieblingstante namens Elena, und fand heraus, dass Nino, ein wichtiger Protagonist ihrer Bücher, den Spitznamen ihres Ehemanns trägt. Alles war erlaubt. Methoden, wie die eines obsessiven Stalkers.
Und, hat es uns genützt, das Geheimnis gelüftet zu sehen? Die Entmystifizierung des Nikolaus ist ein notwendiger, emanzipatorischer Akt und ein wichtiger Schritt hinaus aus der Kindheit, hinein in das Universum der Erwachsenen. Und die Demaskierung Elena Ferrantes? Wir brauchen sie nicht, um in ihr Universum einzudringen. Und noch viel schlimmer: Sie hat bereits damit gedroht, mit dem Publizieren aufzuhören, sollte ihre Identität einmal enthüllt werden.
Das ist der Grund, wieso ich, mitten in der Nacht, auf meinen Schlafzimmerboden blicke. Darauf verstreut liegen ihre Bücher, und nur ihre Bücher. Wie sie es sich gewünscht hatte.
Aus dem Französischen übersetzt von Fabian Federl.
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