Kultur: Ich will kein Theater
Es werde Licht, Luft, Leben! Von den Berliner Rimini-Küsten zu Achim Freyers Universum: Hier werden die Bühnenbücher des Jahres vorgestellt.
Sie sind die Neuentdeckung des Theaterjahrzehnts, und sie haben eine Figur gefunden und erfunden, die es zwischen Aischylos und Achternbusch und von Max Reinhardt bis Robert Wilson auf der Bühne so noch nie gegeben hat: den „Experten des Alltags“. Sie, das sind die drei Mitt-/Enddreißiger Helgard Haug, Daniel Wetzel und Stefan Kaegi, die seit 2000 unter dem magischen Zufallsnamen Rimini-Protokoll firmieren. Und von ihrem Stützpunkt Berlin aus die Welt erobern.
Erobern und erkunden: Indem die Rimini-Protokollanten von Indien bis Südamerika und von Berlin bis Zürich immer wieder Herzchirurgen, Oberbürgermeisterkandidaten, Ex-Vietnamkriegskämpfer, Seitensprungagentinnen, Leichenbestatter, Speedflirtspezialisten, Lkw- Fahrer, Ghostwriter von Millionenbetrügern, professionelle Sterndeuterinnen oder professorale Karl-Marx-Exegeten ihre jeweils realen Rollen spielen lassen und zugleich eine so fantastisch fundierte wie abenteuerlich abgründige Erforschung nie gesehener Wirklichkeiten.
Ihnen allen ein Zeichen haben nun Miriam Dreysse und Florian Malzacher als Herausgeber des im Berliner Alexander Verlag erschienenen Bands über Rimini-Protokoll gesetzt. Darin ein Beitrag des Komponisten und Regisseurs Heiner Goebbels, dazu Gespräche mit diversen Mitwirkenden und jede Menge Bild- und Textdokumentationen dieses factionalen Mehr-als-Dokumentations-Theaters. Passend auch, dass die Riminis im Januar die 100-Jahrfeier des Berliner Hebbeltheaters als hintersinnige Gegenwartsgeschichte inszenieren wollen.
Wer im eigenen Kopf noch einmal den Originalton der im Juli in Berlin verstorbenen Jahrhundertfigur an- und nachklingen lassen möchte, der lese George Taboris „Bett und Bühne“. Seine langjährige Vertraute und Verlegerin Maria Sommer hat diese Gedanken „Über das Theater und das Leben“ im Wagenbach Verlag herausgegeben. Einige seiner späten Artikel und Zwischenrufe sind hier im Tagesspiegel zuerst erschienen. Auf Deutsch war Taboris fabelhaft tiefgründiger Shakespeare-Essay „Hamlet in blue“ außer in einem längst vergriffenen Programmheft allerdings noch nie ungekürzt zu lesen: das Beste, das Erhellendste, was je über Shakespeare und die Deutschen geschrieben wurde. Was etwas heißen will.
In aller Kürze und Dichte das Beste, was es derzeit über den Schauspieler, Regisseur und Räsoneur Fritz Kortner gibt, präsentiert Klaus Völker in der Reihe „Jüdische Miniaturen“ des Berliner Verlags Hentrich & Hentrich. Das fein bebilderte und vom Theaterhistoriker KV mit der gewohnten Souveränität gestaltete Bändchen „Fritz Kortner. Jude und Rebell gegen das privilegiert Konventionelle“ endet mit einem Foto, das Kortner als Boxer am Punchingball zeigt. Was gut und gründlich ist am Regietheater, verdankt sich diesem Ausdrucksfighter, Text- und Menschenergründer. Nebenbei sei bemerkt, dass eine erweiterte Wiederauflage von Völkers großer Kortner-Monografie spätestens 2010 zum 40. Todestag des Meisters fällig wäre.
In der „Edition Burgtheater“ des Wiener Deuticke Verlags war zuletzt von Völker eine kluge Hommage an die Schauspielerinnen Kirsten Dene und Elisabeth Orth erschienen. Jetzt hat der in Berlin lebende österreichische Kritiker Klaus Dermutz in der gleichen Reihe ein Doppelporträt der „Tragikomiker Ignaz Kirchner und Martin Schwab“ vorgelegt. Ein gebürtiger Wuppertaler und ein Württemberger, einst Protagonisten, aber doch nie die absoluten Stars im Theater von Peymann, Tabori und Zadek. Bis heute sind sie zwei eher leise, nachdenklich melancholische und bisweilen doch urkomische, erzkomödiantische Menschendarsteller. Menschen-, nicht Typendarsteller! Und so auch zwei mittlerweile fast märchenhafte Geschichtenerzähler, deren Wahrnehmungsschärfe ein oft entzaubertes, zur Anekdote verläppertes Patchworktheater erst wiederentdecken muss.
Einer der wenigen wirklich authentischen neuen Spielmacher ist der Belgier Alain Platel, der sinnigerweise als Heilpädagoge begonnen hat. Längst bringt er in aller Welt die Schwermütigen und die Schwerfüßigen zum Tanzen. Grund genug, dem spätestens durch seine Mozart-Fantasie „Wolf“ auch in Deutschland berühmten, noch immer jugendlich wirkenden Fünfziger die „Nahaufnahme Alain Platel“ zu widmen. Das informative Taschenbuch im Alexander Verlag hat die Berliner Kritikerin, Theaterweltreisende und frühere Festivalmacherin Renate Klett zusammengestellt, auf der Basis von fünf anschaulichen Werkstattgesprächen mit Platel.
Die Anschaulichkeit ist wohl nicht gerade die Stärke von Wissenschaftlern beiderlei Geschlechts und mancherlei Länder, die sich mit größter Hingabe dem Werk einer eher unfreiwillig zum Theater und zum Literaturnobelpreis gelangten Entgrenzungskünstlerin nähern. Auf der Grundlage eines Wiener Symposiums im Herbst 2006 (zum 60. Geburtstag des Subjekts der Begierde) ist jetzt der Band „Elfriede Jelinek: Ich will kein Theater“ mit dem Untertitel „Mediale Überschreitungen“ erschienen: im Wiener Praesens Verlag herausgegeben von Pia Janke und mit klugen und klügsten Beiträgen zu Jelinek und Jelineks Connections hin zu Schleef, Schlingensief, Stemann, Valie Export und vielen anderen. Zu offenen und verborgenen Zitaten, zu Dekonstruktionen, Übermalungen, Übersetzungen, Vertonungen, Verkörperungen, Verfilmungen, zum Gespenstischen und Spirituellen. Von Irene Dische und Peter Weibel, der Komponistin Olga Neuwirth oder dem künftigen Hamburger Intendanten Joachim Lux.
Mit als Erster hat von „medialen Überschreitungen“ natürlich Richard Wagner geträumt, der Erfinder des alle Bühnenwelt nietzscheanisch (und praktisch) vereinenden „Musiktheaters“. Dieser Idee ganz hingegeben war vor allem das Opus Magnum des „Rings“, und die 130-jährige Geschichte der Wagner-festspielenden Nibelungentreue hat der elsässische Musikwissenschaftler Philippe Olivier in seinem Großband „Der Ring des Nibelungen in Bayreuth von den Anfängen bis heute“ nachgezeichnet (Schott Verlag, Mainz). Ein Muss für Kenner und Wissbegierige, schon wegen des reichen Bildmaterials. Aber auch wegen so scheinbar beiläufiger Informationen wie der, dass Peter Stein schon vor Patrice Chéreau Anfang der siebziger Jahre ein Bayreuther „Ring“-Angebot bekam. Das Projekt scheiterte, weil Stein erst Wagners Festspielhaus umbauen wollte.
Das absolut bildfreie Theatertextbuch des Jahres war im Frühjahr gewiss Günther Rühles wuchtige Geschichte vom „Theater in Deutschland 1887–1945“, der man sich eine Fortschreibung in die Gegenwart wünschen würde (Tsp. vom 6. Mai 2007). Das theatralische Bilderbuch des Jahres ist dagegen – mit über 200 Seiten erläuternder Texte – das dreibändige Kompendium „Freyer Theater“, ediert von Sven Neumann beim Alexander Verlag (diesem kleinen und längst großartigsten Theaterverlag). Opulenter, verführerischer kann eine Reise in das Universum des heute 73-jährigen Berliner Malers und Bühnenbildners, Opern-, Theater- und sogar Filmregisseurs Achim Freyer nicht sein. Sein Imaginationsreichtum, seine Bildererfindungslust ist nur vergleichbar mit Fellini und Wilson; und auch wer Freyer nie den „Faust“ illustrieren oder Händels „Messias“ inszenieren sah, der lese und staune.
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