Interview mit Charlotte Gainsbourg: „Ich war ein Kind unter Erwachsenen“
Die Schauspielerin Charlotte Gainsbourg gehört zur neunköpfigen Jury des Festivals. Ein Besuch in Paris und ein Gespräch über die Kunst des Urteilens.
Eine Dachwohnung in St. Germain-des-Prés, ein riesiges Zimmer neben der offenen Küche. Langer Esstisch für zwölf Personen, tiefe, alte Sessel rund um einen Couchtisch mit Stapeln schwerer Kunstbücher obenauf. Ein Plattenspieler, luftige Lautspechertürme. Mitten im Zimmer eine Kinderspielzeuginsel unter dem Oberlicht. Überhaupt, viel Licht für einen grauen Wintertag in Paris. Auftritt Charlotte Gainsbourg in Jeans und leichtem Pulli, die sechs Monate alte Tochter Joe im Arm. Sie setzt ihr Kind behutsam zum Spielzeug und sich selbst in einen der Sessel am Fenster.
Charlotte Gainsbourg, sprechen wir über das Urteilen. Sie sind Jury-Mitglied der Berlinale. Keine ganz neue Rolle: 2001 war Liv Ullmann Ihre Präsidentin in Cannes.
Die Einladung damals hat mir sehr geschmeichelt, aber die Arbeit war so belastend wie eine Mission. Ich hatte das Gefühl, keine gute Richterin zu sein – unfähig, die Filme so zu analysieren, wie sich das gehört. In den Diskussionen traute ich mich nicht, einen Film einfach subjektiv zu sehen. Inzwischen stehe ich zu meiner Subjektivität. In einer Jury will ich nicht als Schauspielerin mit 20 Jahren Berufserfahrung urteilen, sondern als Zuschauerin. Da ist es mir ganz egal, ob ich die Inszenierung professionell auseinandernehmen kann oder nicht.
Sie werden ja nicht als Filmwissenschaftlerin in die Jury gebeten.
Ich habe meine Werte selber entwickelt. Außerdem hat mich der Berlinale-Direktor sicher nicht in erster Linie wegen eingehender Analysen eingeladen. Er hat mich sehr nett kontaktiert und mich dann hier zu Hause besucht. Als ich mit „Der Zementgarten“ erstmals zur Berlinale kam, mit 21, da war er noch nicht da.
Das war 1992, Dieter Kosslicks erste Berlinale war 2002. Als Jurorin erleben Sie nun einen Rollenwechsel. Als Schauspielerin beurteilt zu werden, tut sicher oft weh.
Das gehört zum Spiel. Kritiken lese ich nicht, ich kritisiere mich selber schon genug. Andererseits bin ich dadurch immer ein bisschen neben der Spur. Ich weiß nie, ob ein Film nun ein Erfolg war oder nicht.
Kein Blick auf die Zuschauerzahlen?
Manchmal sagt mir das jemand, aber obwohl ich so lange in diesem Beruf arbeite, kann ich immer noch nicht einschätzen, was ein Erfolg ist. Vielleicht, weil ich es gar nicht wissen will? Ich habe nicht viele Erfolgsfilme gemacht, bis auf die Komödie „Prête-moi ta main“ mit Alain Chabat vielleicht. Auch Lars von Triers „Melancholia“ lief nicht schlecht.
Zur Einschätzung könnte das Urteil von Kollegen helfen. Was bedeutet es Ihnen?
Sehr viel. Zumal es selten vorkommt. Als Isabelle Huppert mir in Cannes den Preis für „Antichrist“ überreichte, da kam es mir vor, als hätte ich ihn ausdrücklich von ihr bekommen. Diese Auszeichnung hat einen ganz besonderen Wert für mich, weil ich Isabelle Huppert als Schauspielerin so schätze (das Kind wird unruhig, Charlotte Gainsbourg nimmt die Tochter auf den Schoß). Manche Anrufe auch berühren mich extrem. Catherine Deneuve hat mir nach „Melancholia“ eine Nachricht auf den Anrufbeantworter gesprochen. Die hat mich so gefreut, dass ich sie archiviert habe.
Wenn Sie Ihre eigenen Filme beurteilen müssten: Welchen finden Sie besonders gelungen oder auch misslungen?
Nach der Premiere sehe ich die Filme nie wieder an. Es gibt nur Erinnerungen. Die Dreharbeiten für „Das freche Mädchen“, das war magisch. Aufregend auch die Arbeit an „Meine Frau, die Schauspielerin“ …
… dem Regie-Erstling Ihres Lebensgefährten Yvan Attal vor elf Jahren …
… ich stand bei Yvan so anders als sonst im Mittelpunkt, auch für mich war das fast wie ein erster Film. Und „Antichrist“: meine erste Zusammenarbeit mit Lars und das erste Mal, dass ich in einer so starken Rolle so extrem gefordert war.
Danach kam „Melancholia“. Bisher wollte keine andere Schauspielerin einen zweiten Film mit Lars von Trier drehen.
Und ich will wieder mit ihm arbeiten! Sicher, es ist nicht einfach. Und auch nicht lustig. Meine beiden ersten Filme sind schon so verschieden, der dritte macht mich erst recht neugierig. Pardon, stört es Sie, wenn ich meine Tochter stille? Ich bedecke mich ein bisschen …
… wenn Sie mögen, unterbrechen wir das Interview so lange.
Nein. Ist nicht nötig.
Das große Urteilen beginnt ja spätestens in der Schule. Wie wurden Sie von Ihren Klassenkameraden gesehen, von Lehrern?
Zu Beginn meiner Schulzeit war ich unbekannt und am Ende eine öffentliche Person. Jedes Jahr wechselte ich die Schule in Paris. Ab der achten Klasse drehte ich Filme, da wollte ich nicht wiedererkannt werden, ich hatte das Bedürfnis nach Diskretion. Mit 13 ging ich ein Jahr lang auf ein Schweizer Internat. Ich wollte unabhängig leben. Meine Eltern ließen mich ja schon früh allein zu den Drehs, bis nach Kanada, mit eigenem Hotelzimmer. Ich war immer ein Kind unter Erwachsenen. Das alles führte dazu, dass ich keine Bindungen hatte, keine Freunde.
Ein Vorteil? Auch Schulfreunde urteilen scharf. Schon steckt man in einer Rolle fest.
Ein Etikett gab es auch für mich, damit musste ich klarkommen. Ich versuchte mich anzupassen, aber mit meinem Namen war ich immer als Tochter dieses bekannten Paars erkennbar, eine Außenseiterin. Irgendwann wurde ich endlich als Schauspielerin anerkannt, aber Freundschaften zu schließen habe ich nie gelernt. Ich war auch nie auf einer Schauspielschule, wo man Freunde fürs Leben findet. Ich habe nur den sehr nahen Kontakt zu Yvan und zu meiner Familie.
Es klingt, als hätten Sie die Einsamkeit trotzdem freiwillig in Kauf genommen.
Freiwillig? Ich habe mir immer Freunde herbeifantasiert – jemanden, den ich jeden Tag anrufen kann. Immerhin, ich habe einen Therapeuten, seit ich 18 bin, dem kann ich mich anvertrauen. Heute sehe ich ihn nur noch gelegentlich.
Bei Ihrer Vorgeschichte bekamen Sie wahrscheinlich schon früh Rollen, ohne zu Castings zu gehen?
Im Gegenteil. Gerade weil die Türen wegen meiner Eltern weit offen standen, waren Castings für mich sehr wichtig. Für „Paroles et musique“, meinen ersten Film, hatte ich ein sehr langes Casting. Auch später habe ich vorsprechen müssen und um Rollen gekämpft – bei „Jane Eyre“ und „21 Gramm“. Für „Antichrist“ musste ich keine Szenen vorspielen, aber das erste Treffen mit Lars war wie ein Casting. Ein einziges Urteil.
Und wie beurteilen Sie sich selber? Sind Sie glücklich, eine erfolgreiche Frau?
Erfolgreich? Nein, bestimmt nicht. Ich beurteile mich immer, jederzeit. Ich lasse mich nie in Ruhe. Ich bin auch nicht zart mit mir selber. Ich leide gern, bis zum Masochismus. Ich ringe am liebsten mit Schwierigkeiten, zu viel Freiheit tut mir nicht gut. Ich brauche Mauern, damit ich sie umstoßen kann.
Ist das Ihre Art, glücklich zu sein?
Ich habe ja Glück, und ich bin mir dessen auch bewusst. Aber ich will das nicht so dahinsagen, da bin ich abergläubisch. In meinem Metier kann das Glück ganz schnell vorbei sein, vor allem bei Schauspielerinnen in einem gewissen Alter.
So viel Vorsicht.
Oh ja! Es wäre aber auch zu beruhigend, wenn man wüsste, dass das noch zehn Jahre so schön weitergeht.
Es gibt also nie Frieden in Ihrem Beruf, nicht mal nach Ihrem Preis für „Antichrist“ in Cannes?
Doch, doch. Ein paar Tage war ich auf Wolke sieben, aber dann fällt man wieder runter.
Ein Höhepunkt. Und was war Ihr bisher schwierigster Augenblick?
Als ich 19 war, starb mein Vater. Ich studierte ein Jahr lang Zeichnen und brach das ab, um ernsthaft Schauspielerin zu werden. Aber plötzlich gab es keinen Film für mich – als hätte ich das durch meine Entscheidung herausgefordert. Ich war antriebslos und völlig verloren. Erst die Arbeit am „Zementgarten“ hat mich da langsam rausgeholt. Aber was habe ich in den Jahren danach für Filme gedreht? Ich erinnere mich nicht mehr. (Charlotte Gainsbourg wickelt ihre Tochter in ein Tragetuch, das sie kunstvoll vor den Körper bindet) Erst durch die Geburt meines Sohnes 1997 kam ich richtig zu mir. Als hätte ich durch ihn wieder die Lizenz zum Leben gewonnen.
Und nun haben Sie drei Kinder mit Yvan, nach Ben und Alice nun Joe, alle in größeren Abständen geboren …
… und sie aufwachsen zu sehen, das ist, als würde ich meine eigene Kindheit neu leben. Das macht mich fröhlich. Und ich vergesse mich endlich selber.
Das Gespräch führte Jan Schulz-Ojala.