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Hegemann-Roman "Jage zwei Tiger": Ich und die Kleinen

Minderjährige mit kaputten Elternhäusern in Extremsituationen: Helene Hegemanns neuer Roman „Jage zwei Tiger“.

Am besten und witzigsten ist Helene Hegemanns neuer Roman „Jage zwei Tiger“ immer dann, wenn sie sich als allwissende Erzählerin selbst sichtbar macht und in die Quere kommt, distanzierend, ironisch, verwundert. „Dies sei ihr posthum als guter Move angerechnet“, lobt sie zu Beginn eine tote Frau dafür, dass diese zu Lebzeiten, statt einen bekannten Journalisten zu heiraten, lieber Sex mit „dumpfen Surferboys“ hatte. Dann erscheint ihr ein Satz schon einmal als „uninteressant“, ohne dass sie auf ihn verzichten würde. Oder sie fragt sich „O, Gott, habe ich das wirklich geschrieben?“, als sie in Form eines Kurzreferats die Lieblingsmusik ihrer Heldin Cecile vorstellt und eine der Bands sie an die „frühen Doors“ erinnert. Kurz darauf versichert sie, „dass Cecile zu den weniger durchgeballerten Charakteren in diesem Roman gehört, aber sehr sympathisch ist“. Und ihr entfährt noch: „Und ja, scheiße, apropos Roman.“

Man hat allerdings auch den Eindruck, dass solche Sätze weniger spontan, sondern der 21 Jahre alten Autorin ein Bedürfnis sind – und sie sich nebenbei mit einer gewissen Unernsthaftigkeit Luft zu verschaffen versucht. Denn wie man in sorgfältig vorab platzierten Interviews nachlesen konnte, sind Helene Hegemann die Diskussionen um ihre Person und ihren 2010 veröffentlichten Debütroman „Axolotl Roadkill“ sehr an die Nieren gegangen. Nach ersten überschwänglichen Besprechungen hatte sich damals herausgestellt, dass sie mitunter ganze Absätze abgeschrieben hatte, insbesondere bei dem Szene-Autor Airen, worauf nicht nur in den Feuilletons eine wochenlange Plagiatsdebatte geführt wurde. Dem Erfolg ihres Club-, Drogen- und Lost-Generation-Romans schadete das keineswegs. Im Gegenteil, beinahe wäre die damals knapp 18-Jährige gar mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet worden.

Und ja, apropos neues Buch: Jetzt schaut und liest wieder die ganze Welt. Der Name Hegemann ist schließlich einem literaturfernen Publikum genauso ein Begriff wie dem Literaturbetrieb, ähnlich wie der von Charlotte Roche, wenn auch aus anderen Gründen. Die Last der öffentlichen Erwartung (und womöglich der eigenen) spürt auch Helene Hegemann, und so heißt es für sie, widerborstig-schnoddrig zu sein und sich lustig zu machen über das Romanschreiben und Romane überhaupt. So wie Cecile auf die Frage ihrer Mutter, ob sie nichts essen wolle, „unweigerlich an all die Romane denken“ muss, „ deren Protagonisten am Esstisch ständig aus irgendwelchen Tagträumen hochschrecken.“

Während der Plagiatsdebatte allerdings war trotz der Buchpreisnominierung zunehmend in den Hintergrund getreten, ob Hegemann wirklich eine literarische Begabung ist. Einen eigenen Ton konnte man ihr guten Gewissens attestieren, auch sprachliche Kraft, und doch steckt in „Axolotl Roadkill“ viel Murks, viel Ungelenkes, viel Kraut und Rüben.

„Jage zwei Tiger“ liest sich flüssiger, ist fantasievoller. Auf verschwiemelte, umständliche Sätze wollte Hegemann jedoch nicht verzichten. Auch dass sie diese mit mehr oder weniger nützlichen Informationen über ihre Protagonisten geradezu vollstopft, wirkt befremdlich. Zudem fragt sich, ob das Lektorat nicht zumindest einige der inflationär gebrauchten, nervtötenden Partizipialkonstruktionen hätte auflösen können.

Verblüffend ist die umfassende popkulturelle Bildung Hegemanns – und mit welcher Lässigkeit und Bosheit sie den Lifestyle der Reichen und Kreativen vorführt, sie sich aber auch in den Lebensabgründen des White Trash auskennt. Nur eine Erzählung will in „Jage zwei Tiger“ nicht so richtig in Gang kommen, soll aber auch nicht: Als ihr Ego wieder einmal mit ihr durchgeht („Was habe ich eigentlich in der ganzen Zeit gemacht?“), erklärt Hegemann, dass es hier ja nicht um sie geht, sondern um „Minderjährige in Extremsituationen“. Oder mehr noch: um Jugendliche mit Extrembiografien, die wiederum mit dem Lebensmodell ihrer durchgeknallten Eltern kollidieren.

Diese Jugendlichen porträtiert Hegemann mit Hingabe und im steten auktorialen Wechsel: Den fast 12-jährigen Kai, der miterleben muss, wie seine Mutter ums Leben kommt, nachdem von einer Brücke ein Stein in die Windschutzscheibe ihres Autos geworfen wird. Er überlebt, landet nach einer Odyssee durch einen Wald auf einem Zirkusplatz und im Krankenhaus, später in der Obhut seines Vaters Detlev, der sich nur widerwillig kümmert: „Eine verbindende und familiäre Zugehörigkeit wurde da demonstriert zu einer nur in der Illegalität und der Aufrechterhaltung kultureller, selbstzerstörerischer Gesten überlebenden, hochreflexiven Punkfraktion.“

Dann gibt es das Zirkuskind Samantha, das nicht unschuldig am Tod von Kais Mutter ist, dessen Funktion in dem Roman ansonsten aber unklar bleibt, außer dass ihr die Apokalypse als das Allerrealste überhaupt erscheint. Schließlich ist da jene Cecile. Deren Eltern leben in einer 120-Zimmer-Villa in der Nähe von Hamburg, und ihnen verbunden fühlt sich die 17-Jährige nur als „Teil derselben durch Abstammung begründeten Lebensgemeinschaft, so fern voneinander sich diese Leben auch abspielten“. Auch sonst fühlt sich Cecile niemandem zugehörig, schon gar nicht ihren Altersgenossen: „Um keinen Preis wollte sie ihr Handeln den gewöhnlichen Standards unterwerfen, wie ein Teenagerleben auszusehen hatte“.

Kai und Cecile treiben unweigerlich aufeinander zu, sprichwörtlich, denn beide sind viel unterwegs: Kai in München, auf Bergtouren und in Zürich, wo es ihn mit seinem Vater auf die Streetparade verschlägt. Und Cecile landet nach der Flucht aus ihrem Elternhaus erst in Worms, wo sie in einer WG in einem eigentlich zum Abriss bestimmten Haus einer Mustersiedlung wohnt, dann in Venedig, schließlich in München.

Allerdings täuscht dieses viele Unterwegssein nicht darüber hinweg, dass „Jage zwei Tiger“ viel Statisches hat. Weder Kai noch Cecile entwickeln sich großartig in dem Zeitraum von fünf Jahren, über den der Roman sich erstreckt. Die drohende Apokalypse in Form eines immer grüner werdenden Himmels hilft da nur wenig; auch nicht die Cecile und Kai gemeinsame Fähigkeit, den Körper verlassen, sich entmaterialisieren zu können.

Hegemann geht es um ständig neue Übertreibungen, um das Erzählen immer noch krasserer Biografien auch ihrer Nebenfiguren. An Einfällen mangelt es ihr nicht, sei es, dass sie Madonna auftreten lässt, sei es, dass sie ein Vernissagen-Publikum beschimpft. Und so wie die Szenen gebaut sind, mitunter wie Filmstills, dürfte Hegemann dieses Mal hauptsächlich von Filmen inspiriert worden sein. Dass es am Ende einen kleinen, unvollständigen Anhang mit dem Verweis vor allem auf einige zitierte Songs gibt, solleine womöglich ironische, womöglich witzig gemeinte Anspielung auf die „Axolotl-Roadkill“-Plagiatsdiskussion sein.

Man kann also Spaß haben bei der Lektüre dieses Romans und sich gut unterhalten fühlen – und doch ermüdet auf Dauer Hegemanns ewiges Stinkefingergezeige, ihre ohne Unterlass Kaputtheiten zelebrierende Bescheidwisserhaltung. Immerhin schützt sie sich so geschickt davor, vor einen Generationskarren gespannt, als Rollenmodell für eine junge Generation missverstanden zu werden.

So wie es etwa Benjamin Lebert vor fast fünfzehn Jahren zur Blütezeit der Popliteratur widerfuhr. Die gesamte Literaturwelt bejubelte den „Crazy“ betitelten Debütroman des damals 17-Jährigen. Elke Heidenreich glaubte im „Spiegel“ gar, nun endlich die Jugend zu verstehen: „Lebert schafft es nicht nur, dass wir ahnen, was in ihren Köpfen vorgeht, er schafft es sogar, dass wir die mögen, die sie tragen.“ Vor solchen Vereinnahmungen braucht sich Hegemann nicht zu fürchten. Dafür hat sie in der Manier eines Michel Houellebecq oder der eines Thomas Glavinic genug Sorge getragen. Und bei ihrem dritten Buch wird sich die öffentliche Aufregung um sie endgültig gelegt haben – so wie es auch bei Benjamin Lebert der Fall war.

Helene Hegemann: Jage zwei Tiger. Roman. Hanser Berlin, 2013, 316 S., 22,99 €.

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