DDR-Roman von Angelika Klüssendorf: Ich, Macht, Männer
Erwachen und leiden in der DDR: Angelika Klüssendorfs Roman „April“.
Hans und April in einem geliehenen Auto, einem knallgelben Wartburg. Es regnet, Hans ist kein geübter Fahrer, er fährt zu schnell. April hat Angst, „bitte fahr langsamer“, sagt sie, und Hans entgegnet: „Auf einmal willst du leben“. Das ist in der Tat eine bemerkenswerte Feststellung.
Angelika Klüssendorfs 2011 veröffentlichter, zurecht hoch gelobter Roman „Das Mädchen“ erzählte von einer grausamen, verwahrlosten Kindheit in der DDR. In der letzten Szene steht die Heldin an ihrem 17. Geburtstag auf einer Kuhweide und blickt den Wildenten nach. Dünn ist das Mädchen; „Kleiderstange“ nennt man sie im Heim. Nun, in Klüssendorfs neuem Roman, hat das Mädchen einen Namen, den hat es sich selbst gegeben: „April“, nach dem Song von Deep Purple. Soeben ist sie 18 Jahre alt geworden, arbeitet als Bürohilfskraft und wohnt zur Untermiete bei einer griesgrämigen alten Frau. Dünn ist sie noch immer, unter ihrer Hose trägt sie stets eine Jogginghose; das schafft Volumen.
Leipzig in den siebziger Jahren. Das Land dümpelt träge und grau vor sich hin; das Ambiente des Romans ist geprägt von Zerfall und Agonie. Dem steht der innere Aufbruch der Heldin gegenüber: Das Leben außerhalb des Heims ist ein kompletter Neubeginn, die psychischen Altlasten aber sind noch da. Zu Beginn lässt April ihren Koffer auf dem Ofen stehen; es kommt zu einem Schwelbrand; „mit dem Koffer verliert sie alles, was sie an die Vergangenheit bindet: Briefe, Tagebücher, Dinge, die sich im Lauf des Lebens angesammelt haben.“ Nicht aber die Erinnerung. „April“ ist ein Buch des Schmerzes, des Leidens, der Unmittelbarkeit, kurz: ein Roman über die aufwallenden Emotionen beim Übergang von der Pubertät in die Erwachsenenzeit.
Angelika Klüssendorf schreibt im Präsens und einem überwiegend stakkatoartigen Hauptsatzstil
Klüssendorf buchstabiert die psychischen Exzesse rücksichtslos durch; die Pathologisierung muss nicht erst von außen an April herangetragen werden – ihr selbstzerstörerisches Potential ist riesig. Die Psychiatrie ist eine logische Zwischenstation auf Aprils Weg, den der Roman über mehr als sechs Jahre begleitet. Doch gleich auf mehreren Ebenen ist „April“ auch eine Erkundung von Machtverhältnissen: Inwieweit hat eine junge Frau Macht über ihren Körper? Wie verleiht wiederum dieser Körper, und mag er noch so unvollkommen erscheinen, Macht über Männer? Die gibt es viele in Aprils Leben, sie kommen und gehen, mal bleibt einer und ist doch nie der einzige. Die Machtfrage beschränkt sich aber nicht auf den privaten Bereich. Klüssendorfs DDR ist einerseits eine reine neoexpressionistische Fiktionslandschaft, ein Raum, der das Bewusstsein seiner Bewohner spiegelt. Auf der anderen Seite gibt es „sie“, dieses „sie“, das April stets vorkommt „wie eine schillernde Blase, die aus stetig wechselnden Teilen besteht: Stasi, Polizei, Müllmänner, Kellner, Arbeitskollegen, Hausmeister.“
Klüssendorf schreibt im Präsens und überwiegend in einem stakkatoartigen Hauptsatzstil. Man weiß aus den Romanen von Agota Kristof, dass die dezidierte Nüchternheit in der Darstellung körperlicher und seelischer Grausamkeit ungeheure Wirkung erzielen kann. Nun haben wir es nicht mehr mit einem Kind, sondern mit einer jungen Frau zu tun, was den sonderbaren Effekt erzeugt, dass die extreme Reduktion, wenn auch nur in wenigen Passagen, in eine Form von jugendlichem Einsamkeitspathos kippt, das dem Romanvorgänger abging. Zumeist aber funktioniert die Verbindung von mentaler Hitze und sprachlicher Kälte und erzeugt tiefe Beklemmung.
Das Gefühl permanenter Bedrohung ist bei Klüssendorf nicht staatlich erzeugt; der Kontrollapparat DDR fungiert nur noch als Verstärker eines tiefer sitzenden Unbehagens. Äußerlich betrachtet, ist Aprils Entwicklung eine gelungene Resozialisierung in die anerkannte Struktur einer Kleinfamilie. Aber wie steht ein solcher Mensch, der quer steht zu allem, auch zu sich selbst, unter Menschen?
Begriffe dafür sind schnell gefunden: Man erkennt sie und sie erkennt sich, „mal als Borderlinerin, mal als Hysterikerin wieder, überlegt, ob sie infantil ist, narzisstisch, eine antisoziale Persönlichkeit. Doch dann lernt sie zu begrenzen: Je nach Konvention kann alles als antisozial bezeichnet werden.“ Auch der Ausbruch aus den Konventionen verläuft in „April“ auf zweierlei Wegen: Im politischen Zusammenhang ist es die Ausreise nach Westdeutschland, in das vermeintlich freie Land also, die eine komplett neue Lebensperspektive verspricht und zunächst, das versteht sich von selbst, dieses Versprechen nicht einhält. Im Individuellen ist es die Hinwendung zur Kunst, zum Schreiben, zur Literatur, die April am Ende des Romans ein Fenster öffnet.
Nun also, Mitte der achtziger Jahre lebt April in West-Deutschland, als Putzfrau und Schriftstellerin; der Weg zurück in die DDR, die retrospektiv möglicherweise doch mehr Heimat war, als sie hatte zugeben wollen, ist ihr versperrt. Wie beides, Künstlertum und Heimatverlust, sich verbinden lassen – das wäre Stoff für einen weiteren Roman.
Angelika Klüssendorf: April. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014, 220 Seiten, 18,99 €.
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