Guy Delisle im Interview: „Ich konnte vor Lachen nicht weiterzeichnen“
Mit Comic-Reportagen von ungewöhnlichen Orten ist Guy Delisle berühmt geworden. Jetzt hat der in Frankreich lebende Zeichner seine Erlebnisse als Vater verarbeitet. Im Interview spricht er über die unterschiedlichen Projekte.
Guy Delisle, Shenzen und „Pjöngjang“, die Orte, in denen Ihre ersten beiden Reisecomics spielen, sind keine typischen touristischen Reiseorte. Wie kam es dazu, dass Sie sich dort aufgehalten haben. Was haben Sie dort gemacht?
Shenzen war nach Nanjing mein zweiter Arbeitsaufenthalt in China, um dort die Herstellung von Trickfilmen zu betreuen. Ich habe in dem Bereich etwa zehn Jahre lang gearbeitet und bin dabei auch viel in der Welt herumgekommen. Die Produktion von Trickfilmen ist ziemlich kostspielig, weshalb viele Arbeitsschritte ins Ausland verlagert werden. China spielt hier eine große Rolle, weil hier die Kosten ziemlich gering sind. Aus dem gleichen Grund kam ich auch nach Nordkorea. Das klingt aus der heutigen Perspektive ziemlich komisch, aber damals waren die Nordkoreaner schlichtweg die billigsten und viele Zeichentrickfilmprojekte wurden in Nordkorea umgesetzt.
In Ihren Reisecomics halten Sie in reduzierten Bildern Ihren Alltag fest. Ist das eine Gewohnheit von Ihnen oder haben Sie sich das aufgrund der besonderen Situationen in diesen Ländern angewöhnt?
Da kamen zwei Dinge zusammen. Zum einen arbeitete ich im Bereich der Animationsfilme und zugleich veröffentlichte ich bereits kleine Episoden in einem Comicmagazin. Als die zweite Reise nach China anstand, nahm ich mir vor, aufzuzeichnen, was ich erlebt habe – ein Freund von mir in Montpellier, Johannes aus Bayern, hatte das immer gemacht und konnte sich so viel besser an Dinge erinnern, die ich schon vergessen hatte. Als ich dann aus Shenzen zurück kam und mir meine Notizen ansah, sagte ich zu den Machern des Comicmagazins, für das ich schon ab und an zeichnete, dass wir daraus ja etwas machen könnten – vielleicht ein paar kleinere Geschichten mit mir im Mittelpunkt. Ich habe das Rad also nicht neu erfunden, das hatten auch schon David Blain oder Lewis Trondheim gemacht. Meine erste Geschichte hatte 16 Seiten und kam bei den Lesern gut an. Und dann haben wir noch eine Episode gemacht und noch eine und irgendwann haben wir entschieden, ein Buch daraus zu machen. Und so entstand mein erstes Album „Shenzen“.
Als ich „Shenzen“ und „Pjöngjang“ vor fast zehn Jahren in Frankreich entdeckte, lief Sofia Coppolas „Lost in Translation“ im Kino und ich sah unzählige Parallelen zwischen Ihnen und Bill Murray in diesen fremden Welten. Haben Sie das ähnlich wahrgenommen?
In der Tat, mir ging es manchmal ähnlich. Ich hatte, bevor ich nach China ging, ein wenig Chinesisch gelernt und dachte außerdem, dass es ein paar Leute sicher geben wird, mit denen ich mich im Zweifel auch auf Englisch unterhalten kann. Shenzen liegt schließlich direkt neben Hongkong. Aber da habe ich mich gründlich getäuscht. Es wimmelt in dieser Wirtschaftsmetropole an chinesischen Geschäftsleuten, aber es gibt kaum Studenten, die Fremdsprachen beherrschen. Ich habe mich dort oft ziemlich einsam gefühlt, weil ich nicht genug chinesisch und die Chinesen weder ausreichend Englisch noch Französisch konnten, um sich mit mir auszutauschen. Das war eine sehr interessante Erfahrung. Ganze Wochenenden vergingen, ohne dass ich auch nur mit einem einzigen Menschen geredet habe. Wenn ich durch die Stadt ging, fühlte ich mich zeitweise wie ein schwebendes Phantom ohne Halt und Berührungspunkte. In etwa so, wie Bill Murray in „Lost in Translation“.
Meine Erwartung an „Pjöngjang“ war, dass es da sicher oft um den großen Führer Kim Jong Il gehen wird. Aber ich habe dann feststellen müssen, dass das eine falsche Erwartung ist. Nicht eine Person in dem ganzen Album spricht über Kim Jong Il oder seine Familie. Ist das nicht befremdlich?
Ich war nicht allein in Nordkorea, sondern im Bereich der Animationsfilme waren noch ein paar mehr Ausländer. Es war komisch und auch anstrengend, dass wir ja praktisch nie allein waren, sondern immer einen Dolmetscher oder Reiseführer um uns herum hatten. Wir haben mit denen schon geredet, aber eben nicht über Politik, weil das schnell in eine Sackgasse führte und auch nicht besonders interessant war. Anfangs haben wir noch sehr aufgepasst und uns überlegt, was wir sagen und besser nicht sagen. Aber nach und nach haben wir immer mehr und immer forscher bestimmte Dinge nachgefragt oder kommentiert, haben aber nur wenige Antworten darauf bekommen. Aber wir waren ja letztlich auch eine Gruppe von Scherzkeksen, die sich mit Animationsfilmen beschäftigt haben und eine Tendenz zur Ironie hatten. Und irgendwann kam das dann schon auch aus uns heraus. Irgendwann haben wir dann immer mehr Witze über Kim Jong Il und seine Entourage gemacht. So haben wir etwa immer dann, wenn wir ein technisches Problem hatten, gesagt, dass wir einfach nur Kim Jong Il anrufen brauchen, der sei schließlich der große Führer, der alles weiß und uns somit auch aus der Patsche helfen könne.
In Nordkorea ist das Fotografieren und Dokumentieren im öffentlichen Raum aufgrund der permanenten Überwachung ja schwierig. Wie arbeiten Sie vor Ort? Fertigen Sie unterwegs Skizzen an oder setzen Sie sich abends im Hotelzimmer hin und lassen den Tag Revue passieren.
In Nordkorea war ich im Jahr 2001, da war das Internet noch nicht sehr entwickelt. Es gab auch kaum digitale Aufzeichnungsgeräte oder Kameras, zumal ich auch kein großer Fotograf bin. Das liegt mir einfach nicht. Außerdem dachte ich, dass die Leute vielleicht schneller Vertrauen zu mir entwickeln würden, wenn ich keine Kamera dabei habe. Ich hatte aber auch nie Schwierigkeiten in Nordkorea, wenn ich mal einen Fotoapparat dabei hatte. Ich habe Freunde, die haben sogar Videos gemacht. Man kann sie sich auf meinem Blog ansehen. Ich arbeite viel mit Notizen. Ich habe ein Tagebuch geführt mit kurzen Texten, aber da ich das alles neben meiner täglichen Arbeit im Studio gemacht habe, habe ich abends nicht noch große Geschichten entwickeln können. Da war ich viel zu müde. Ich habe mir aber vor Ort schon überlegt, ob man zu den Notizen Bilder machen kann, die sich lohnen. Das ist die entscheidende Frage. Nach Shenzen und Pjöngjang war ich beispielsweise in Saigon, aber da haben meine Notizen nichts ausreichend Interessantes ergeben, als dass ich daraus einen Comic hätte machen wollen. Ich verarbeite also nicht alles, was ich erlebe.
2005 haben Sie Ihre Frau, die für Ärzte ohne Grenzen arbeitete, nach Birma begleitet und sich dort hauptsächlich um Euren Sohn Louis gekümmert. Wie haben sich Ihr Reisen und Ihr Arbeiten mit Familie verändert?
Beim Reisen mit Frau und Kind ändert sich natürlich alles. Zunächst dachte ich, das wird nicht viel anders, als bei unserer letzten Reise, denn wir waren zuvor schon gemeinsam in Äthiopien, wo ich „Pjöngjang“ gezeichnet hatte. In Birma wollte ich das ganz genauso machen. Aber mit Kind hatte ich kaum Zeit gefunden, um meinen Projekten nachzugehen, die ich mitgebracht hatte. Das hatte aber auch einen Vorteil. Ich konnte mit Louis Land und Leute besser kennenlernen, statt ein Jahr im Zimmer zu sitzen und an alten Projekten zu arbeiten. Und mit einem kleinen Jungen zu reisen, öffnet viele verschlossene Türen. Man wird grundsätzlich als harmlos wahrgenommen und es ergibt sich sofort ein Dialog darüber, was man macht und will. Dazu kommt, das Burma ein Land ist, in dem man Kinder liebt und offen auf diese zugeht.
Was sich in Ihrem Birma-Band schon andeutet, tritt im Jerusalem-Album noch stärker in den Vordergrund. Ihre persönlichen Kommentare bekommen eine stärker politische Note. Sind Sie mit einer bestimmten Erwartung oder Haltung nach Israel gereist?
Israel ist ein Land mit einer langen Geschichte. Ich selbst bin christlich erzogen und hatte ein paar Kenntnisse über die biblische Geschichte. Ich kannte außerdem die großen Linien des Konfliktes und wusste marginal um die Situation der Palästinenser, aber das war es auch schon. Ich hatte mich aber vorher kaum für die Region interessiert und konnte mich auch nur wenig darüber informieren, weil wir erst einen Monat, bevor wir nach Jerusalem gereist sind, erfahren haben, dass meine Frau in Israel eingesetzt würde. Ich wusste aber auch, dass wir dort vor allem Zeit mit Menschen verbringen würden, die dort seit Jahren arbeiteten, ob als humanitäre Helfer oder als Journalisten, und sehr viele Informationen hatten. Sie würden mir im Zweifel all meine Fragen beantworten können. Es war daher verhältnismäßig leicht, als unbeschriebenes Blatt in Jerusalem aufzuschlagen und zu wissen, dass ich ein Jahr Zeit habe, um mehr herauszubekommen, wenn es mich denn interessieren würde. Und ich dachte auch, nach meinem einen Jahr werde ich dann verstanden haben, warum die Verhältnisse in der Region so sind, wie sie sind. Natürlich ist Jerusalem aus der Ferne betrachtet eine sehr komplizierte Stadt, wie auch der Konflikt kompliziert ist. Viele sagen, man könne den Konflikt nicht verstehen, so verworren das alles ist, aber letztlich sind doch alle Konflikte kompliziert. Wenn Sie heute an Syrien denken, dann verstehen Sie, was ich meine. Aber Comics haben den Vorteil, dass sie mit Bild und mit Text arbeiten und in der Kombination dann dafür sorgen können, dass Dinge leichter verständlich werden. Schon in Jerusalem habe ich gewusst, dass ich, wenn ich daraus ein Album machen will, darin auch einige Dinge erklären muss. Aber das geht mit einem Comic eben manchmal etwas einfacher.
Das müssen Sie genauer erklären. Was genau ist der Vorteil, an eine solche Situation als Comiczeichner und nicht als Journalist heranzugehen?
In meinen Büchern finden Sie meinen Alltag. Ich mache mir Notizen und werte diese hinterher aus, um dann zu entscheiden, ob das so interessant ist, dass ich das mit anderen teilen möchte. Mein Ansatz ist dabei wenig pädagogisch. Wenn ich etwa eine Episode zum Tempelberg in Jerusalem mache, dann ist das zwar auch ein historisch wichtiger Ort, aber es ist vor allem auch ein magischer Ort. Ich bin ein Flaneur, entdecke beim Spazieren durch die Stadt Details, wie etwa die überquellenden Mülleimer, und dann ist das ein Teil des Ganzen. Ich sehe mich dabei weniger als Journalist, sondern vielmehr als Ethnologen, der Elemente und kleine Puzzleteile sammelt, die ich hinterher zu einem Gesamtbild zusammensetze. Und dieses Bild ist das meines erlebten Jahres. Ein Journalist hat diese Zeit ja gar nicht, er muss in sehr viel kürzerer Zeit seine Geschichten einsammeln. Ich war ein Jahr da und konnte darauf warten, dass die Geschichten zu mir kommen. Wenn ich von einer Reise kein Buch mitbringe, ist das nicht tragisch. Ein Journalist muss aber von jeder Reise ein, zwei oder gar drei Geschichten mitbringen, sonst war die Reise nicht erfolgreich. Meine Alben sind letztlich wie große Postkarten, auf denen einige meiner Erlebnisse und Erfahrungen stehen. Außerdem vergessen Sie nicht, dass ich ein Album über Jerusalem gemacht habe und nicht über Israel. Ich habe Israel kaum bereist, es gibt nur kleine Episoden zu einigen Ausflügen, aber ansonsten bleibe ich vor allem in Ostjerusalem, was noch einmal ein besonderer Teil der Stadt ist.
Sie waren in Birma und Israel aber nicht nur als zeichnender Ethnologe, sondern auch als Familienvater. In Jerusalem waren Sie vor allem in einer schwierigen Zeit, über den Jahreswechsel lief die Aktion „Gegossenes Blei“ im Gazastreifen. Wie erklärt man seinen Kindern, was da passiert?
Die Situation war tatsächlich ziemlich seltsam. Meine Frau arbeitete ja in Gaza, kannte die Menschen dort und hatte eine Ahnung, wie die Leute dort lebten. Außerdem war aufgrund der Feiertage kaum ein Journalist im Land. Nur der Reporter von Al Dschasira war in Gaza anwesend und der einzige der berichtete. Wir waren also keine hundert Kilometer von dem Ort entfernt, wo die Aktion lief, verfolgten das aber wie alle im Fernsehen auf Al Dschasira. Das war schon irgendwie surrealistisch. Außerdem hatten wir in Ostjerusalem die Befürchtung, dass sich die Situation auf den arabischen Teil Jerusalems auswirken würde und es zu einer Intifada kommen könnte. Aber es blieb ziemlich ruhig, das Leben ging einfach weiter. Ich erinnere mich an ganz alltägliche Situationen, wie ich im Supermarkt meine Mild gekauft habe und im Supermarkt auf Monitoren die Bombeneinschläge in Gaza live gezeigt wurden, die sich eine Stunde entfernt von Jerusalem ereigneten.
In Ihrem aktuellen Comic drehen Sie das System Ihrer Kindercomics „Louis am Strand“ und „Louis fährt Ski“, die völlig ohne Text funktionieren, völlig um. In „Handbuch für schlechte Väter“, das jetzt auf Deutsch erschienen ist, gewinnt der Text die Deutungshoheit über das Bild, um einige komische Anekdoten aus Ihrem Alltag zu erzählen. Beim Lesen musste ich den Comic immer wieder lachend zur Seite legen. Ging es Ihnen beim Zeichnen ähnlich?
Tatsächlich musste auch ich beim Zeichnen ziemlich viel lachen, aber es gab auch Geschichten, die mich sehr angerührt haben. Ich hatte zuvor den „Jerusalem“-Band fertiggestellt, mit vielen politischen und historischen Erklärungen und mir nach diesem Wälzer vorgenommen, dass mein nächster Comic Kurzgeschichten ohne diese Schwere enthalten wird. Nachdem ich zuvor immer wieder ein Land oder eine Gesellschaft beobachtet habe, beobachte ich jetzt einfach mein Kind. Ich mag das ganz gerne, wenn ich die Rolle habe, Dinge nicht so zu machen, wie man das erwartet und im Buch kann man dann ja auch sehen, wie das dann aussieht. Es begann damit, dass ich eine erste Geschichte in meinem Blog veröffentlicht habe und dann kam eine zweite und dritte Geschichte hinzu und mein Verleger sagte irgendwann, dass wir daraus doch ein Buch machen sollten. Die erste Geschichte war die von dem Zahn, den Louis verloren hat und unter das Kopfkissen gelegt hat in der Hoffnung, dass dann die Zahnfee kommt. Ich habe das tatsächlich, wie im Buch beschrieben, mehrmals vergessen und als ich die Geschichte in meinem Blog zeigte, haben sich sehr viele Väter bei mir gemeldet und gesagt, dass es ihnen ganz genauso gegangen sei. Mit den anderen Geschichten danach war es ähnlich. Wie gesagt, ich lache tatsächlich eine Menge, wenn ich diese Anekdoten zeichne und es gab die ein oder andere Situation, in der ich den Zeichenstift aus der Hand legen musste, weil ich vor lauter Lachen nicht mehr weiterzeichnen konnte.
Aber Sie haben im Handbuch an der ein oder anderen Stelle schon auch geflunkert oder? Es gibt da die Geschichte, in der Sie Louis an den Umgang mit der Kettensäge heranführen wollen.
Es ist sogar das meiste von diesen Geschichten erfunden, aber um etwas gut erfinden zu können, ist es hilfreich, wenn diese einen Anker in der Realität haben. Denken Sie etwa an Hergé und die Figur von Professor Bienlein. Auch diese Figur war erfunden, aber es gab ein reales Vorbild. Es gibt daneben aber auch Geschichten, die sind aus der Wirklichkeit gegriffen, etwa die Geschichte mit der Zahnfee. Weil Sie die Kettensäge ansprechen, das war natürlich anders. Ich drück meinem fünfjährigen Sohn natürlich keine Kettensäge in die Hand. Aber auch da gab es einen realen Ausgangspunkt. Ich war mit meinem Sohn im Garten und habe ihn scherzhalber schon gefragt, ob er nicht auch mal will. Er hatte vor dem lauten Ding natürlich viel zu viel Angst, aber von dieser Situation ausgehend habe ich mich schon gefragt, wie diese Geschichte weitergehen könnte. Die lustigsten Geschichten in dem Comic, das kann ich sagen, haben alle einen wahren Kern.
Sie haben Hergé angesprochen. Sehen Sie eine Ähnlichkeit zwischen Ihnen und Hergé, der ja auch viel durch die Welt gereist ist und in seinen „Tim & Struppi“-Abenteuern davon erzählt?
Hergé habe ich relativ spät gelesen, erst als Erwachsener. Als Kind habe ich Lucky Luke und die Schlümpfe verschlungen. Nachdem ich die „Tim & Struppi“-Bände gelesen habe, habe ich verstanden, warum das ein Klassiker ist. Hergé hat in seinen Comics einen überaus beeindruckenden Grad der Perfektion erreicht. Dennoch gab es natürlich andere Zeichner, die mich geprägt und beeinflusst haben. Als Kind war dies eben Morris, später dann Art Spiegelman oder Gotlieb.
Das Interview führte Thomas Hummitzsch. Leseproben der Bücher von Guy Delisle gibt es auf der Website seines deutschen Verlages Reprodukt.
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