Claude Lanzmann: Ich habe sie alle gesehen
Ein Mann, ein Buch, ein Jahrhundert: Claude Lanzmanns monumentale Erinnerungen manifestiert in "Der patagonische Hase".
Was am Ende bleibt von einem Jahrhundert, einem Leben oder auch nur einem Bewusstsein, kennt kein verbindliches Maß. Es ist nur eine weitere Selbstimagination, ein letztes Sichaufbäumen der verbliebenen Kräfte in lautstarkem Stolz oder Schreckstarre, Reue oder Rechtfertigungsnot – wenn sich nicht schon jene Drift ins tonlose Jenseits der Geschichte eingestellt hat, die einige von Becketts Figuren, in Erwartung des Richtspruchs der Leere, bis zur äußersten Bewusstseinsgrenze getrieben haben.
Claude Lanzmann hat in einer Art Leibgefühlsstörung, die den Namen Koenästhesie trägt, schon als Kind den Tod erwartet. In Albträumen sah er, wie das Fallbeil der Guillotine auf ihn niedersauste. Die Neurose verwandelte er zugleich in eine moralische Empörung, die ihn zu einem Gegner der Todesstrafe machte. Und sie stattete ihn mit einer verrückten Liebe zum Leben aus, die es ihm erlaubt, sich auch als fast 85-Jähriger noch als Siegfried zu erleben. Lanzmann scheint viele libidinöse Energien in Haltungen umgemünzt zu haben. Auch seine Autobiografie spiegelt das: die ursprüngliche Vitalität seiner Kraftnatur, die sich mit Haut und Haar in die Strudel der Erinnerung begibt, und den Willen des Chronisten, nicht nur als Zeuge in eigener Sache aufzutreten.
„Der patagonische Hase“, nach Lanzmanns wahlverwandtem Tier benannt, ist daher nicht das Buch eines zuverlässigen Historikers. Es ist, obwohl sein 1925 in Paris geborener Autor die Sorbonne mit einer Arbeit über Leibniz’ Monadenlehre verließ, nicht das Buch eines Philosophen. Es ist auch nicht einfach das Buch eines Dokumentarfilmers, der von „Warum Israel“ (1972) bis zum epochalen „Shoah“ (1985) die Entstehungsgeschichten seiner Projekte nachzeichnet. Es ist das Buch eines intellektuellen Haudegens von unerschöpflicher Neugier, der seinen abenteuerlichen Leidenschaften und Affären so viel Raum einräumt wie seinem Gerechtigkeitssinn. Was er in jungen Jahren als Résistancekämpfer und Partisan als militärischen Mut zu bewundern lernte, projiziert er später umstandslos in die israelische Armee: „Die Frage nach Mut und Feigheit ist der rote Faden, der dieses Buch und mein Leben durchzieht.“
Es ist aber auch das Glück dieser Autobiografie, dass sie sich nur unter Mühen in eine brauchbare Biografie konvertieren ließe. Ihr romanhafter, um kein Bekenntnis verlegener Subjektivismus, der doch einen Pakt mit dem Leser schließt, dass die Dinge sich so zugetragen haben, befördert sie in die Höhen von André Malraux’ „Antimemoiren“ – und entfernt sie von armseligeren Beispielen des Genres wie André Glucksmanns „Zorn eines Kindes“.
Was Lanzmann bewegte, bewegte ihn auf allen Ebenen – zunächst als Starjournalisten, der vom Schauspielerporträt bis zum politischen Essay alles schrieb und von der damals publizistisch bedeutenden französischen „Elle“ bis zur Zeitschrift „Les Temps Modernes“, zu der ihn sein Mentor und Freund Jean-Paul Sartre geholt hatte, viele Medien bediente. Eine 1958 veröffentlichte Reportage wie die über den Prozess gegen den „Cure d’Uruffe“ (nachzulesen in Philippe Sollers’ Blog www.pileface.com), einen lothringischen Priester, der eine 20-Jährige geschwängert hatte, sie vor der Entbindung erschoss, das Kind aus dem Leib schnitt, taufte, mit der Letzten Ölung versah und verstümmelte, enthält schon Lanzmanns ganzen Sinn für Grausamkeit sowie seine Opfer- und Täterempathie, die ihn befähigte, „Shoah“ zu drehen.
Man kann die Stoffmassen, die dieses Buch verarbeitet, nur andeuten: das Ringen um eine selbstbewusste jüdische Identität, seine redselige, mit Anekdoten um sich werfende Heiterkeit, die der Eitelkeit des Schriftstellers Albert Cohen („Die Schöne des Herrn“) ebenso gilt wie Simone Signoret, die an einer vermeintlichen Affäre ihres Mannes Yves Montand mit Marilyn Monroe laboriert: „Ich habe sie alle gesehen, und ich kann ohne Eitelkeit sagen, dass ich der Karriere von einigen zu einem qualitativen Sprung verhalf.“ Dazu hinreißende Porträts von Sartre als Genie, Verführer und Querulant, von Frantz Fanon, dem antikolonialistischen Kämpfer, und dessen Frau Josie.
Das Buch erzählt von Lanzmanns Zeit in Tübingen und Berlin nach dem Krieg, wo er Lektor der Freien Universität war, von Reisen in alle Welt, den Ehen mit Judith Magre und Angelika Schrobsdorff, und den sieben eheähnlichen Jahren, die Lanzmann mit Simone de Beauvoir verbrachte. Umwerfend das Porträt der stotternden Mutter Paulette, die ihre drei Kinder verlässt, um nach Jahren mit einem Liebhaber wieder aufzutauchen. Erschütternd die Geschichte der Schwester Evelyne Rey, die sich als 16-Jährige unsterblich und bald enttäuscht in den Philosophen Gilles Deleuze verliebt, Sartres Konkubine wird, in eine verhängnisvolle Verstrickung mit Claude Roy gerät und, von ihrer schauspielerischen Arbeit überfordert, mit 36 Jahren Selbstmord begeht.
Nichts von alledem ist wirklich vergangen. Gerade das „Ich erinnere mich“, das viele Sätze einleitet, beweist die Gegenwart des Erinnerten. Noch einmal durchzuckt es jede Nervenfaser, spannt noch einmal jeden Muskel, und das nicht chronologisch, sondern in thematischen Strängen. Das besondere Pulsieren dieses Erinnerungsgewebes hat seinen Grund aber auch in der Entstehung des Buches: Lanzmann hat es nicht geschrieben – er hat es seinen Mitarbeiterinnen erst diktiert, dann redigiert. Das Buch wechselt vom Präteritum ins Präsens, spielt mit Raffungen und Dehnungen und ist in seiner Mündlichkeit dann doch in höchstem Maße kalkuliert.
Gleich zu Anfang erinnert sich Lanzmann an einen Film, der ihn als Zwölfjährigen mit einer Schafottszene beeindruckte: „L’affaire du courrier de Lyon“ von 1937. Die Namen der Schauspieler, Pierre Blanchar und Dita Parlo, nennt er sehr wohl. Zugleich heißt es: „Den Namen des Regisseurs weiß ich nicht mehr; und ich habe auch nie versucht, ihn herauszufinden.“ Das ist natürlich eine Lüge – und eine bewusste Gemeinheit. Das Verschweigen von Claude Autant-Lara ist typisch für Lanzmanns heiligen Zorn, der jeden Widersacher ereilen kann. Als fast Neunzigjähriger zog Autant-Lara 1989 für Jean-Marie Le Pens rechtsextremen Front National ins Europäische Parlament ein und ruinierte mit antisemitischen Äußerungen seinen Ruf.
An anderer Stelle hält Lanzmann daran fest, Edwin Redslob, Ende der vierziger Jahre Rektor der Freien Universität, habe Emmy Göring bewundernde Sonette gewidmet. Was nach der französischen Veröffentlichung in Deutschland zu einer Debatte führte, dürfte durch den FU-Historiker Jochen Staadt aufgeklärt worden sein. Die nach dem Krieg in der „Berliner Zeitung“ erschienenen Gedichte waren eine kommunistische Denunziation. Lanzmann kann sich in dieser Frage nicht auf seine subjektive Erinnerung berufen.
Es nimmt diesem Buch nichts von seiner Wucht, seinem mitreißenden Temperament und seiner Aussagekraft über eine Zeit, die sich hier ganz in ihrer Selbststilisierung wahrnimmt. Auch dass einem Lanzmann im Verlauf der fast 700 Seiten nicht unbedingt geheurer wird, schadet nicht. Die auftrumpfende Eitelkeit des Helden, dessen egomanische Züge nur mit seinem Empathievermögen wetteifern, schafft eine angenehme Distanz. Lanzmann scheint überzeugt zu sein, sogar noch aus seinen Dummheiten das Beste gemacht zu haben: Sonst würde er nicht berichten, wie er sich mit Simone de Beauvoir zweimal ohne jeden Sonnenschutz, nur mit Espadrilles ausgerüstet, in die Alpen wagt – und die bittere Strafe auf dem Fuße folgt.
Im gar nicht so heimlichen Zentrum dieser Erinnerungen steht indes die sprachlose amour fou zwischen Lanzmann und der nordkoreanischen Krankenschwester Kim Kun-Sun. Diese Liebe durfte gerade einmal zwei Tage im Sommer 1958 dauern und währt hier, über ein halbes Jahrhundert danach, 20 atemlose Seiten. Sie machen begreiflich, wie eine solche Begegnung ein ganzes Leben verändern kann. Die Postkarte, die Lanzmann nach seiner Rückkehr von Kim bekommt und wie eine Trophäe präsentiert, ist die einzige Abbildung des Bandes. Lanzmann wollte daraus immer einen Film machen und bedauert, es nie getan zu haben. Er hat Unrecht: Hier steht er Schwarz auf Weiß, in der ganzen Pracht seiner Farben.
Der patagonische Hase (aus dem Französischen von Erich Wolfgang Skwara, Barbara Heber-Schärer und Claudia Steinitz, 682 S., 24,95 €) erscheinen im Rowohlt Verlag.
Am Montag, den 13. September, liest Peter Fitz im Berliner Ensemble ausgewählte Passagen, Barbara Wahlster spricht mit dem Autor.
Mitte September erscheint bei absolut Medien eine Gesamtausgabe seiner Dokumentationen (10 DVDs, 99,90 €). Dazu gehört auch der erst dieses Jahr veröffentlichte Karski-Bericht: ein Interview mit Jan Karski, dem berühmten Kurier des polnischen Widerstands. Lanzmann hatte sich vehement gegen Yannick Haenels 2009 bei Gallimard erschienenen Roman „Jan Karski“ ausgesprochen und ihm Geschichtsfälschung vorgeworfen.
Am 10. Oktober beginnt im Berliner Babylon Mitte eine Retrospektive seiner Filme.
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