Kultur: „Ich glaube an das Weibliche“
Vor der Bären-Verleihung: Ein Gespräch mit „Gloria“-Regisseur Sebastián Lelio.
Señor Lelio, gesetzt den Fall, Sie gewinnen heute den Goldenen oder einen anderen Bären: Wen rufen Sie als Erstes an?
(lacht) Meine Freundin. Obwohl, sie säße ja dann im Saal. Also, das sage ich jetzt alles nur für den Fall, dass das Festival uns einlädt. Ein riskantes Spiel!
Sie haben es gut, Sie leben derzeit ohnehin in Berlin. Da müssen Sie zur Schlussgala nicht extra erneut anreisen.
Ja, wir leben hier seit fast acht Monaten und wollen noch eine Weile bleiben. Ich will hier neue Drehbücher entwickeln und von hier aus reisen. Ich liebe diese Stadt, sie ist eine tolle Basis für vieles.
Letztes Jahr waren Sie Gast des Künstlerprogramms des DAAD.
Die Einladung kam zum rechten Zeitpunkt. Im Juni war „Gloria“ abgedreht, im Juli kam ich nach Berlin, und den Schnitt besorgte ich mit meinem Ko-Editor in Santiago per Internet. Der DAAD hatte uns großzügig eine schöne Wohnung zur Verfügung gestellt, unser „Winterpalais“! Zur Zeit wohnen wir vorübergehend in Prenzlauer Berg, demnächst ziehen wir nach Kreuzberg, für fünf weitere Monate. Mal sehen, was danach kommt.
In „Gloria“ denken Sie sehr genau über Familienstrukturen nach. Das macht neugierig auf Ihre eigenen Familienverhältnisse. Mir fiel auf: Ihr Debüt vor acht Jahren, „La sagrada familia“, zeichneten Sie unter dem Namen Sebastián Campos.
Campos heißt mein angenommener Vater. Meine Mutter ist Chilenin, mein leiblicher Vater Argentinier, ich bin in Argentinien geboren. Als meine Eltern sich scheiden ließen – da war ich drei Jahre alt –, zog ich mit meiner Mutter nach Chile, sie heiratete wieder, und mein Nachname wurde Campos. Als sie sich erneut scheiden ließ, beschloss ich, mit den Namen ein bisschen aufzuräumen.
In Ihrem Debüt geht es um einen starken Vater. In „Navidad“, den Sie drei Jahre später drehten, um abwesendeVäter. Auch „Gloria“ hat eine schillernde Vaterfigur. Ein autobiografisches Leitmotiv?
Vielleicht. Obwohl ich heute denke, es ist ein Glück, zwei Väter zu haben, fast ein Privileg. Familien allgemein aber sind eine heilige Falle. Sie können ein Albtraum sein, aber auch wie eine Art Zen-Meister, der einen formt. Man muss sie überwinden, sonst bleibt man für immer in ihren Mustern gefangen. Schon paradox: Die Eltern erschaffen einen, man ist deren Resultat, aber sie dürfen einen nicht daran hindern, der zu werden, der man ist.
Wie sind denn Ihre drei Eltern mit Ihrer künstlerischen Berufung umgegangen?
Erst gab es einen gewissen Widerstand, aber meine Besessenheit setzte sich schnell durch. Mit 16 habe ich angefangen, Gedichte zu schreiben, das war mein ursprünglicher Zugang zur Kunst. In Chile sind die Dichter riesige Vorbilder. Ein erstes Gedicht zu schreiben, das ist wie der erste Kuss, der erste Sex. Nach ein paar Jahren spürte ich, ich brauche etwas Komplexeres. Das ist Film: Erzählung, Theater, Literatur, Fotografie, Tanz, Bewegung, Malerei – alles zusammen.
Bei der Berlinale-Pressekonferenz haben Sie gesagt, Ihre Mutter und deren Freundinnen haben Sie zu „Gloria“ inspiriert. Wie verlief die Recherche?
Die Generation meiner Mutter ist ein eigenes Universum, das wollte ich genauer erforschen. Mein erster Impuls für den Film war eine Erinnerung. Schon als ich klein war, hat meine Mutter im Auto immer ihre Lieblingslieder mitgesungen. Das ist so bewegend – eine Frau fährt in ihrem kleinen Auto durch die harte Stadt und singt ihr Leben raus, ihre Hoffnungen und Träume.
Haben Ihre Mutter und andere Frauen auch am Drehbuch mitgewirkt?
Für den Film machten wir Interviews mit ihr und vielen Frauen. Wir sammelten Anekdoten, aber vor allem Gefühle. Wir fragten: „Sag mal, was machst du gerade so durch?“ Und dann sahen wir: Diese Frauen stecken in einem Dilemma. Sie gehören zur letzten Generation in Lateinamerika, deren Erziehung ganz auf Ehe und Familie ausgerichtet war. Und wenn die Kinder aus dem Haus sind und die Ehen geschieden, finden sie sich allein in einer Welt wieder, die sich total verändert hat. Diese Verstörung, dieses Aus-der-Balance-Sein birgt enormes Erzählmaterial.
Ihr dramaturgischer Ausgangspunkt ist eine Single-Party.
Das war für mich eine ganz neue Entdeckung: Diese so lebendigen Veranstaltungen sind sehr in Mode in Santiago. Ich ging also dahin, um zu beobachten, setzte mich abseits …
… vielleicht haben Sie auch getanzt …
… ja, ein bisschen getanzt habe ich mit den Ladys auch. Ich war absolut verblüfft über den riesigen Spaß, den sie auf diesen Partys haben. Es ist ja nicht so, dass mit 60 der Ruhestand beginnt, schon der Begriff passt nicht mehr. Nein, das Leben geht weiter, mit Leidenschaften, Krisen, Herausforderungen und Umbrüchen. Gloria will keine Sekunde dieses Lebens verschwenden. Sie wird zwar total niedergestreckt, aber nur, um aus ihrer Asche wiedergeboren zu werden.
Der Film zeigt das extrem feinfühlig. Zugleich arbeiten Sie stets mit einem männlichen Koautor zusammen. Man könnte sagen, Sie sind geborene Feministen.
Ach, Ismen! Wenn meine Faszination für Gloria irgendwelche Ismen-Deutungen zulässt, dann bitte. Ich glaube eher an das Weibliche, auch in mir selber. Dies sollten wir hegen und pflegen, wie eine heilige Pflanze. Das Missverständnis der Männer über ihre Rolle in der Welt, das hat nur zu Desastern geführt.
Noch etwas Privates, wenn Sie gestatten: Wollen Sie selber Vater werden, oder sind Sie es schon?
Ich habe keine Kinder, aber ich würde gerne Vater sein. Im Augenblick bin ich der Vater meiner selbst.
Das Gespräch führte Jan Schulz-Ojala.
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