Kultur: Ich ging einst hin in dunkler Nacht
Hymnen an den Sternenhimmel: Vincent van Gogh in einer Amsterdamer Ausstellung
Ein Bild erobert eine Stadt. Plötzlich strahlen diese Sterne überall, drehen sie ihre Spiralen straßauf, straßab, wirft der wild gewordene Mond sein Scheinwerferlicht von jeder Werbewand und gerät der Himmel in Turbulenzen. Vincent van Goghs „Sternennacht“ ist da, wo sie für viele Amsterdamer hingehört: in ihrer Stadt, im Van Gogh Museum. Die Leihgabe vom New Yorker Museum of Modern Art bringt die Verhältnisse zum Tanzen. Das Hilton hat ein Hotelzimmer im Stil dieses berühmtesten van Gogh-Gemäldes umdekoriert; der holländische Spirituosen-Hersteller Bols einen Cocktail mit viel Blue Curaçao neu kreiert, bei dem man nach übermäßigem Genuss garantiert Sternchen sieht.
Der Anlass ist jedoch ein ernsthafter, ein wissenschaftliches Desiderat. Nie zuvor wurde das Thema „Nacht“ im Werk van Goghs systematisch studiert, niemals dazu eine eigene Ausstellung initiiert. Das MoMA als Besitzer des prominentesten Nachtbildes hatte die Idee; nach der ersten Station 2008 in New York ist die Schau nun beim van Gogh-Museum als Kooperationspartner angelangt. Der New Yorker Erfolg soll sich hier wiederholen und den Rekord der jüngsten van Gogh-Themenschau in der Wiener Albertina mit ihren knapp 600 000 Besuchern überflügeln. Die Chancen stehen gut, denn neben einem Trommelfeuer an Marketing bietet die Ausstellung tatsächlich neue Erkenntnisse und ein großartiges Kunsterlebnis.
Berühmt sind die späten Nachtbildnisse der südfranzösischen Phase – neben dem MoMA-Werk der Sämann auf dem abendlichen Feld und die Sternennacht über Rhone aus dem Besitz des Van Gogh-Museums oder das Nachtcafé in Arles, von dem sich das nur wenige Kilometer entfernte Kröller-Möller-Museum nicht trennen wollte. Doch beschäftigte sich der Künstler mit dieser Thematik ein Leben lang, ja ist sie ein Leitmotiv in den zahllosen Briefen an seinen Bruder Theo.
Schon in der Zeit, als er noch als Evangelist im kleinen Brabanter Dorf Nuenen tätig war, beschreibt er ihm immer wieder Beobachtungen zur Nacht, den empfundenen Stimmungen, denn die Stunden nach Sonnenuntergang spendeten ihm Erholung und Trost vom Tagwerk als Prediger.
Van Gogh ist ein Metaphysiker, der seine religiösen Gefühle mehr und mehr in die Natur verlegt und als Künstler in die Malerei überträgt. In der abendlichen Stille auf dem Land, in den Sternenformationen des Himmels findet dieser Ruhelose seinen Frieden. Wie seine Zeitgenossen war auch er von den wachsenden Möglichkeiten zur Erforschung des Firmaments fasziniert, den verfeinerten optischen Geräten, den immer genaueren planetarischen Karten. Doch sah er im Himmel eher das Geheimnis des Lebens. Bis heute hat noch kein Naturwissenschaftler die merkwürdigen Wallungen und Luftzirkulationen, die Konstellation der Sterne, selbst die Silhouette der Landschaft seiner berühmten New Yorker Sternennacht zu entschlüsseln vermocht. Die Amsterdamer Ausstellung macht deutlich, dass es eine Lösung dieses Rätsels nicht gibt, denn van Gogh malte sein ganz persönliches mystisches Erlebnis, kein Naturphänomen.
Den Anfang markiert ein kleines intimes Bild von 1638-40, die Heilige Familie am Abend, das bis vor wenigen Jahren noch Rembrandt zugeschrieben war. Van Gogh besaß von ihm eine Schwarzweiß-Reproduktion und hatte wohl deren friedvolle Stimmung im Sinn, als er sich an sein erstes großes Interieurbild im Schein einer einzigen Lichtquelle wagte, die berühmten „Kartoffelesser“ (1885), in das er seinen ganzen Ehrgeiz legte. Die fünf Mitglieder dieser Bauernfamilie, scharen sich um den Tisch, der von oben durch eine Petroleumlampe beleuchtet wird. Lebhaft zeichnen sich Licht und Schatten auf Antlitz, Händen, den hellen Hauben der Frauen ab. Der scharfe Kontrast gräbt noch tiefere Furchen in die erschöpften Gesichter. Während uns heute vornehmlich deren Grobheit ins Auge springt, bezeugte van Gogh ihnen damit seinen Respekt.
Vor allem ging es dem Maler um die Lösung eines künstlerischen Problems: Wie reagiert Farbe in Dunkelheit? Wie gestalte ich Licht? Wer van Gogh für einen Bauchmaler hielt, der nur mit Furor den Pinsel auf die Leinwand hieb, wird hier zum zweiten Mal eines Besseren belehrt. Ähnlich wie er in seinen Briefen immer wieder das Thema Nacht reflektierte, seinem Bruder darin erste Kompositionsskizzen lieferte und ganze Gedichte kopierte, die ihn inspirierten, also sich keineswegs spontan an der Staffelei ausprobierte, hat er sich auch ausführlich mit kunsthistorischen Quellen befasst.
Sein großes Vorbild war George Millet und dessen monumentale Darstellung der einfachen Leut’, sein wichtigster Anreger für das Kolorit Eugène Delacroix, dessen strahlende Farben er etwa beim „Jesus auf dem See Gethsemane“ bewunderte. Und er war nicht allein: Was die Schule von Barbizon, Daubigny, Corot, Millet, schon beschäftigte, Landschaft im Dämmerlicht, war auch für die darauffolgende Avantgarde, Georges Seurat, Louis Anquetin, Toulouse-Lautrec, ein Thema. Die Amsterdamer Ausstellung stellt den Einzelgänger van Gogh zwar in eine Tradition, einen zeitlichen Rahmen und zeigt doch sein Ausbrechen, seinen eigenen Aufstieg zum strahlenden Stern.
Wie hart diese singuläre Position erarbeitet war, lässt sich am Sämann studieren, der hier erstmals mit der größeren Version aus einer Schweizer Sammlung zusammengestellt ist. Das kleinere Bild aus Amsterdamer Besitz (beide 1888) ist keine Vorbereitung wie bisher gedacht, sondern eine mit sicherer Hand gemalte Kopie, wie sie van Gogh für Freunde und Familie öfters von wichtigen Werken angefertigt hat. Vor dem violett-bläulichen Feld und dem in hellgrünen Farben mit rosa Streifen entflammten Horizont dominiert als dunkle Figur der Sämann mit einer Weide. Hier zeigt sich die Bedeutung des japanischen Holzschnitts für van Gogh.Und als wär’s ein asiatischer Kirschblütenzweig vor der Scheibe des Monds kreuzt auch bei ihm ein Ast den Feuerball der untergehenden Sonne. „Oft erscheint mir die Nacht viel lebendiger und farbenfroher als der Tag“, hatte der Künstler in einem Brief formuliert. Mit seinem Sämann hat er sie auf die Leinwand geholt. Ein Jahr später schuf er die New Yorker Sternennacht, die ihn selbst in ihrer Kühnheit überwältigte. In einem Brief an seinen Bruder bekannte er, dass ihm dieses Bild fremd geblieben sei. Heutige Besucher pilgern zu ihm hin und verehren darin die Schönheit der Nacht, das Fest der Farbe, die Freiheit der Kunst.
Van Gogh Museum, Amsterdam, bis 7. 6.; Katalog (dt. bei Hatje Cantz) 29,80 €.
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