The Streets: Ich bin nicht ganz von hier
Hart ist der Weg zum leichten Leben: Mike Skinner alias The Streets und sein Album "Everything is borrowed"
2002: Britpop befindet sich im Stadium des Siechtums. Mit einem neuen Oasis-Album lockt man keinen Hund hinter dem Ofen hervor. All die aufregenden Bands der kommenden Jahre drücken noch die Schulbank oder brüten über ihrer ersten Single. Daneben gibt es eine dynamische, aber in Minifraktionen zersplitterte Clubmusik-Landschaft mit begrenzter kommerzieller Reichweite. In dieses Szenario platzt das Debütalbum eines 23-jährigen Kapuzensweater-Trägers aus Birmingham: Mit „Original Pirate Material“ avanciert Mike Skinner alias The Streets quasi über Nacht zum Star, weil ihm die Verschmelzung beider Sphären gelingt: Er löst die um die Alltagskultur der weißen Arbeiter- und Mittelklasse-Kids kreisenden Songthemen aus dem Britpop-Kontext und bettet sie in eine an jüngsten Clubstilen wie Grime und UK-Garage orientierte Musik. Skinners zu blechern scheppernden Beats gespuckte Reime über die halbautobiografische Kunstfigur des saufenden, pöbelnden, herumvögelnden, Drogen konsumierenden „Geezers“ beschwören die Vergnügungssehnsucht britischer Heranwachsender. Und gelten als authentische Stimme der Vorstadtjugend im maroden Cool Britannia Tony Blairs.
2008: Mittlerweile schwächelt die nächste Britpop-Generation, kommerziell sollen es wieder mal die Altvorderen reißen: Coldplay, Oasis, The Verve. Und Mike Skinner bringt sein viertes Album heraus. Das Titelstück „Everything Is Borrowed“ gipfelt in dem mit gospeliger Inbrunst gesungenen Refrain: „I came to this world with nothing / And I leave with nothing but love / Everything else is just borrowed“. Eine unverhohlene Hymne auf die Liebe, zugleich Grabgesang auf die materialistischen Verlockungen, die Skinner zu Beginn seiner Karriere beschwor. Woher kommen die erschöpft klingenden Reime eines offenbar am eigenen Lebensentwurf müde Gewordenen? Mike Skinner wird im Herbst 30, aber das allein dürfte den Sinneswandel nicht erklären. Sechs Jahre zuvor wurde er vom Erfolg überrollt. Doch schon das dritte Album „The Hardest Way To Make An Easy Living“ geriet 2006 zur sarkastischen Abrechnung mit den destruktiven Kräften des Pop-Business, der nun die Läuterung folgt.
Als kalkulierter Karriereschritt taugt die Hinwendung zu großen Menschheitsthemen wie Tod, Vergänglichkeit oder dem Sinn des Lebens kaum: Wer möchte schon dem reumütigen Partylöwen dabei zuhören, wie er seine küchenphilosophische Ader entdeckt? Doch genau dafür gibt es eine Menge Gründe. Zum einen ist Mike Skinner immer noch ein begnadeter Geschichtenerzähler und Lyriker: „I want go to heaven for the weather / But hell for company“ erwidert der Ich-Erzähler in „Heaven For The Weather“ auf das Drängen des Teufels, sich für eine Seite („going down or up“) zu entscheiden. Die Platte enthält etliche vor hintergründigem Witz sprühende, zugleich bemerkenswert moralische Skizzen wie den Selbstmord-Verhinderungs-Reigen „On The Edge Of A Cliff“, die knifflige Vater-und-Sohn-Moritat „On The Flip Of A Coin“ oder die simpel gestrickte Ökoparabel „The Way Of The Dodo“.
Alle zehn Songs auf dem knapp 40 Minuten langen Album sind im bewährten „The Streets“-Sprechgesang intoniert, leicht näselnd, mit deutlich ausgestelltem Cockney-Akzent. Wenn Mike Skinner aber mal die Stimme zum Gesangsversuch erhebt, bleibt kein Auge trocken: Schon „Dry Your Eyes“ von der zweiten Platte war gerade wegen der windschiefen Melodie ein echter Tränenzieher, den er letztes Jahr mit einer leiernden Version von Elton Johns „Your Song“ toppte. „Strongest Person I Know“ setzt diese kleine Balladen-Werktradition fort.
Musikalisch hat sich einiges getan bei The Streets. Bestachen die bisherigen Alben durch den Minimalismus und hohen Abstraktionsgrad der an amerikanischen HipHop-Innovatoren (Wu-Tang Clan, A Tribe Called Quest) geschulten Backing-Tracks, so gewinnen diese jetzt vielschichtiges Eigenleben. Skinner und seiner kleinen Helferschar gelingen mit einfachsten Mitteln eigenwillige Bonsai-Ableger geläufiger Stil-Stammbäume. Das reicht von abgemagertem Northern- Soul, herbstlichem Fake-Chanson und schmissigem Pseudo-Funk bis zu Keksdosen-Disco und Balladen-Grandezza im Puppenstubenformat.
„Everything Is Borrowed“ wird wohl kaum eine Pop-Revolution auslösen wie seine Vorgänger. Doch die Schutzlosigkeit, mit der hier jemand einen radikalen Paradigmenwechsel vollzieht, ist mutig. Mike Skinner sieht eventueller Häme unaufgeregt entgegen: „I’ll not feel no fear / cause I’m not really here“ („The Escapist“). Gelassen entzieht sich der Künstler dem ganzen Zirkus. Und deutet schon mal elegant seinen Ausstieg aus dem Geschäft an: 2010 will er das Werk von The Streets mit einer futuristischen Metropolen-Platte abschließen.
„Everything Is Borrowed“ ist am 26. September bei Locked On/Warner erschienen
Jörg W, er
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