Kultur: Ian Kershaw im Gespräch: Der große Diktator gehört der Welt
Ian Kershaw ist Autor einer umfassenden Biografie Adolf Hitlers, deren zweiter Band soeben erschienen ist ("Hitler 1936-1945", Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart). Der 1943 geborene Wissenschaftler ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Sheffield.
Ian Kershaw ist Autor einer umfassenden Biografie Adolf Hitlers, deren zweiter Band soeben erschienen ist ("Hitler 1936-1945", Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart). Der 1943 geborene Wissenschaftler ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Sheffield.
Herr Kershaw, Sie haben sich zehn Jahre lang mit Adolf Hitler beschäftigt. Hat Sie das persönlich verändert?
Natürlich habe ich mich verändert. Aber das hat nichts mit Hitler zu tun!
Haben Sie mal von Hitler geträumt?
Nein, nie. Von vielen anderen Dingen habe ich geträumt, aber nie von ihm. Die Arbeit an sich hat mich schon betroffen gemacht. Aber als Engländer habe ich den Luxus, nicht so emotional befangen zu sein. Es ist etwas anderes, ob man selbst Opfer oder Täter war oder einen Vertreter dieser Gruppen in der Familie hat. Das heißt aber nicht, dass ich ihm neutral gegenüber stehe oder neutral über den Holocaust schreiben würde.
Ist Ihr distanzierter Blick Programm?
Ich habe das nicht bewusst getan. Ich behandle Hitler so, wie ich als Historiker Napoleon oder Cäsar behandeln würde. Das ist durchaus von Vorteil.
Aber Hitler hat doch eine andere Dimension als Caesar.
Ich versuche auch, dieser Dimension gerecht zu werden. Hitler hat die Weltgeschichte verändert wie kein anderer im 20. Jahrhundert. Dieser Diktator ist für mich die abscheulichste Figur des Jahrhunderts.
Der Publizist Sebastian Haffner hat bei Hitler auch Erfolge ausgemacht.
Ich würde nur von Scheinerfolgen sprechen.
Inwiefern?
Das waren nur Erfolge, die unmittelbar in den Ruin führten. Die so genannten guten Zeiten in den 30er Jahren konnten in dieser Form nicht weitergehen, alles war auf Sand gebaut. Es schien alles nur, als ob: Als ob Hitler die Wirtschaft wieder aufgerichtet und Deutschland wieder zu einer Großmacht gemacht habe. Alles waren nur Vorstufen auf dem Weg in den Krieg und den Untergang.
Die Historiker streiten schon lange darüber, ob Hitler einen vorgefertigten politischen Plan hatte, den er zielgerichtet umsetzte, oder ob er nur ein Herrscher war, der auf Prozesse reagierte, die sich dann radikalisierten bis hin zum Holocaust. War Hitler ein schwacher Diktator?
Nein. Ein Mensch, der zu so viel fähig war, solche Befehle gegeben hat, den kann man nicht als schwach bezeichnen. Die Impulse, die zur Vernichtung der Juden führten, standen in einer direkten Wechselwirkung mit Hitlers Weltanschauung. Im Krieg war Hitler sicherlich beteiligt an allen Entscheidungen, die zum Holocaust führten.
Sie versuchen, das Phänomen Hitler damit zu erklären, dass seine Gefolgsleute "dem Führer entgegenarbeiteten", seine Wünsche schon zu kennen glaubten, bevor er sie aussprach. Hat dies das Regime radikalisiert?
Ja. Und es gab kein Zurück von dieser Radikalisierung. Hitler traf die wichtigsten Entscheidungen und trieb diese Radikalität voran. Da muss man von einer Wechselwirkung sprechen.
Haben sich die Deutschen Hitler selbst geschaffen?
Ja. der "Führer" war ein Produkt der Gesellschaft, sie hat ihn geformt. Das heißt aber nicht, dass Hitlers Person marginal war. Vor allem in den letzten Kriegsjahren hat er das Geschehen bestimmt. Und schon ab 1939 kann man bei der Verfolgung der Juden von einer genozidalen Absicht Hitlers sprechen. Damals hieß das, verhungern lassen, Vernichtung durch Arbeit und Deportation.
Bisher ist kein gezielter Befehl Hitlers, die Juden zu ermorden, dokumentiert.
Das wäre auch unwahrscheinlich. Eher war es so, dass Hitler wichtige Schritte hin zu Vernichtung "ermächtigt" hat. Es gibt Beispiele dafür, dass ihm die Entscheidung über Gewaltaktionen gegen Gruppen von Juden in bestimmten Territorien ausdrücklich vorbehalten wurde. Das ist ein starkes Indiz dafür, dass er bei weitreichenden Entscheidungen gefragt wurde.
Sie beschreiben die Wechselwirkung zwischen Hitler und der deutschen Gesellschaft. Solche Wechselwirkungen gibt es auch in anderen Regimen. Was macht das Besondere dieses Verhältnisses im nationalsozialistischen Deutschland aus?
Es sind die utopischen weltanschaulichen Ziele: Vertreibung und Vernichtung der Juden, Lebensraum im Osten, den Krieg und die Weltmacht gewinnen. Das war das Einzigartige. Gerade weil diese Ziele so vage waren, konnten sich alle mächtigen Gruppen darauf verständigen. Die Machtinstrumente eines modernen Staates ließen sich dieser ideologischen Erlösungsideologie unterordnen. Das hat extreme Energien freigesetzt - und dies unterscheidet Deutschland von Italien damals, von der Sowjetunion und anderen Diktaturen.
Die Wende des Jahres 1989 hat zwar die Hinterlassenschaft Hitlers nicht ausgelöscht, aber doch so etwas wie das Ende der Nachkriegsgeschichte signalisiert. Rückt damit nicht auch Hitler für uns in weitere Ferne?
Sie haben Recht: Die Überwindung des Kalten Krieges bedeutete das Ende einer Ära, die weitgehend von Hitler bestimmt wurde. Aber seinen moralischen "Nachlass" betrifft das nicht. Der Holocaust ist 60 Jahre her, und wir erleben, dass das Interesse wächst.
Wächst es wirklich? Umfragen zeigen, dass in Deutschland bei jüngeren Menschen die Kenntnisse über den Holocaust gering sind.
Das Interesse aber ist ablesbar an der Zahl von Neuerscheinungen zum Thema, an populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen, an Filmen wie "Schindlers Liste" und an Dokumentarfilmen im Fernsehen, die sehr gute Zuschauerquoten haben. Auch die Debatten über den Holocaust und seine Folgen, etwa die über das Buch von Norman Finkelstein zum "Shoa-Business", sind ein Zeichen dafür, dass das Interesse nicht abflaut. Das ist merkwürdig nach so langer Zeit. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass die letzten Vertreter der Tätergeneration noch zur Rechenschaft gezogen werden und die letzten Vertreter der Opfergeneration noch ihre Geschichte erzählen können.
Lässt nicht das Aussterben der Erlebnisgeneration vermuten, dass dieses Thema an Brisanz verlieren wird? Wird es in Deutschland noch einmal eine Debatte wie die um Goldhagens Buch oder um die Wehrmachtsausstellung geben, wenn keine Zeitzeugen mehr teilnehmen? Gehört Hitler dann nicht mehr "nur" den Deutschen, sondern der Welt?
Er gehört der Welt. Die Brisanz wird nachlassen, wahrscheinlich wird es keine zweite Goldhagen-Debatte mehr geben. Das hat mit Generationenabfolge zu tun. Aber auch neue Generationen entdecken das Thema für sich, denken Sie an die Attacke einer jüngeren deutschen Historikergeneration auf die Väter der deutschen Sozialgeschichtsschreibung. Die moralische Frage besteht weiter, auch für die dritte Generation.
Sie beschreiben, wie Hitler in den 20er Jahren Kenntnis bekommt von den Gräueltaten der Bolschewiki im russischen Bürgerkrieg. Ernst Nolte hat die These in die Welt gebracht, wonach es einen "kausalen Nexus" zwischen den kommunistischen Verbrechen und jenen der Nationalsozialisten gibt, die glaubten, sich verteidigen zu müssen. Hat Hitler die russischen Revolutionäre nur nachgeahmt?
Diese These von Nolte ist überspitzt. Viele Leute waren tatsächlich beeinflusst von den Berichten über die russischen Gräueltaten. Bei Hitler selbst war der Gedanke von der restlosen Entfernung der Juden schon lange vorher vorhanden. Bereits in seiner ersten Schrift vom September 1919 sprach er davon als Ziel einer nationalen Regierung. Die Ansätze einer antisemitischen Vernichtungsideologie waren in Deutschland schon vor der Revolution von 1917 verbreitet. Die Tatsache, dass Berichte aus Russland Menschen beeinflusst haben, heißt ja nicht, dass man Ernst Noltes Suggestion folgen muss, wonach der Bolschewismus schlimmer war als der Nationalsozialismus, nur weil er als historische Erscheinung früher lag.
Nolte sagt in einem Interview, es störe ihn nicht, dass er in Deutschland wenig geachtet sei, da er im Ausland zunehmend geschätzt werde. Trifft das für England zu?
Nein. Nolte ist fast unbekannt in England.
Herr Kershaw[Sie haben sich zehn Jahre lang mit A]
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