Kultur: Hundert ungelebte Leben
Romeo und Julia auf dem Dorfe: Valeska Grisebachs Brandenburg-Melodram „Sehnsucht“
Die Frau steht in der Küche am Keyboard, trägt ein Kirmes-Krönchen im Haar und drückt auf die Tasten. Ich möchte ein Eisbär sein. Der Mann schaut sie an, das Nachbarskind lacht. Mann und Frau in einem Haus auf dem Dorf, ein simples, kleines Glück.
Es gibt viele Momente wie diesen in „Sehnsucht“. Gewöhnliche Momente im Leben von Ella, der Frau (Ilka Welz), und Markus, ihrem Mann (Andreas Müller). Er baut einen Hasenstall in der Schlosserwerkstatt, er feiert mit den Kumpels von der Freiwilligen Feuerwehr, sie sitzt beim Kaffeekränzchen mit den anderen Dorffrauen, es gibt Kondensmilch aus der Plastikdose und sie erzählen sich, wie sie ihre Männer kennenlernten. Oder sie weckt die Oma, die ein Nickerchen auf dem Sofa macht, und sagt: Oma, du bist so schön.
Das Dorf heißt Zühlen, es liegt in Brandenburg, der Wind rauscht durch die Bäume, sonst passiert nicht viel, nur sechs, sieben Mal pro Jahr rückt die Feuerwehr aus. Man spricht Dialekt und sehr, sehr langsam, die Leute hier haben sich nicht so mit den Worten. Das Bier macht die Zunge schwer, und wenn Ella und Markus abends am Küchentisch über Romeo und Julia reden, brauchen sie lange Pausen, um ihre Sätze zu Ende zu bringen.
„Sehnsucht“, der zweite Film der 1968 in Bremen geborenen, in Berlin aufgewachsenen und in Wien unter anderem bei Michael Haneke ausgebildeten Regisseurin Valeska Grisebach ist so wortkarg wie seine Helden. Schon ihr Erstling „Mein Stern“, der vom Jungsein erzählte und vom Ungelenken der ersten Liebe, war kein bisschen geschwätzig. Wenn die Filmsprache Vokabeln hat, dann genügen Grisebach Hilfsverben. Kurze Sätze, Nahaufnahmen, Stillleben. Der Mann. Die Frau. Das Kind. Der Hase. Die Werkstatt. Das Haus. Das Dorf. Aber weil sie so geduldig und genau hinschaut, wird das vermeintlich Banale und Unscheinbare groß. Archaisch. Magisch. Man grinst über die Unbeholfenheit der Dorfbewohner, das Geduckte und Verdruckste an ihnen, und ist im nächsten Moment bestürzt über ihre Schutzlosigkeit, ihre Ehrlichkeit. Und plötzlich hat das, was in Zühlen mit dem Mann und der Frau dann doch geschieht, die Dimension einer griechischen Tragödie.
Valeska Grisebach hat eine Meldung im Vermischten gelesen. Keine spektakuläre Story von einem Amokläufer oder von mörderisch vernachlässigten Kindern, wie man sie auch aus Brandenburg kennt. Nein, nur eine Kurzmeldung vom Selbstmordversuch aus Liebeskummer in einem französischen Dorf. Dann führte sie 200 Interviews, über die Sehnsucht als Kind und die Wirklichkeit als Erwachsener, mit Leuten, die sie auf der Straße angesprochen hat. Schon für ihren Erstling hatte sie 250 Jugendliche befragt. Valeska Grisebach verdichtet gerne. „Ein gelebtes Leben“, hatte sie bei der Berlinale-Premiere von „Sehnsucht“ gesagt, „das sind hundert ungelebte.“ So entdeckt sie, dass auch in Zühlen der Tod zu Hause ist, dass es auch dort Romeos und Julias gibt, möglicherweise.
Am Anfang rettet Markus einen, der mit dem Auto an den Baum gefahren ist. Er weiß, wie das geht, stabile Seitenlage und so, er ist ja bei der Freiwilligen Feuerwehr. Deshalb macht er sich abends mit Ella über den Selbstmörder seine Gedanken. Später erzählt er dem Nachbarskind, wie er als kleiner Junge den Küken das Schwimmen beibringen wollte, aber sie sind alle ertrunken. Und beim Fortbildungswochenende der Feuerwehr, in irgendeinem anderen Dorf, tanzt Markus allein zu „Feel“ von Robbie Williams: „I wanna contact the living/not sure I understand/This role I’ve been given/I sit and talk to God/And he just laughs at my plans“. Soll Gott ruhig lachen, Markus wiegt sich trotzdem im Takt zu „I don’t wanna die“. Ganz langsam bewegt er sich, betrunken und innig, man sieht nur seinen Nacken und die hochgezogenen Schultern, und man ahnt, da ist noch etwas in ihm, was in der Werkstatt und in der Küche bei Ella nicht vorkommt, eine Sehnsucht, die brachliegt. Am anderen Morgen wacht er neben Rose, der Kellnerin auf, er erinnert sich an nichts.
Markus und die Kellnerin (Anett Dornbusch), das wird noch eine Liebe, eine scheue, schicksalhafte Begegnung. Aber Markus liebt auch Ella, also fährt er heimlich hin und her, sitzt im Schrebergarten bei Roses Familie, und es ist genau wie zu Hause in Zühlen. Er kommt nicht zurecht, als Ella sagt, mit stockenden Worten, dass ihr die Luft wegbleibt, wenn sie ihn anschaut, und dass sie sich wünscht, beim Sex mit ihm auch mal zu reden. Er kommt nicht zurecht, als er mit Rose Schluss machen will, es geht einfach nicht, es wäre gelogen.
Ein Mann und zwei Frauen: wie gesagt, eine einfache Geschichte. Beim Grillfest tanzt Ella fröhlich, sie merkt nichts, sie merkt doch was. Schon bei der Chorprobe mit den anderen Frauen hatte sie was gespürt, als Markus auf Fortbildung war, sie hatte bei diesem alten Volkslied vom Liebsten, der an die Kammertür klopft, unvermittelt zu weinen begonnen. Dabei ist sie nicht schwanger oder sonst wie empfindlich.
Valeska Grisebach betrachtet die Oberfläche der Dinge, die kleinen, bangen Gesten ihrer Protagonisten so lange, bis all das Belanglose ein Geheimnis, eine Wahrheit offenbart. Ihre Seelenprovinz hat nichts Enges, nichts Kleinmütiges. Ihre Darsteller, die sie in Berlin, Cottbus und Neuruppin gefunden hat, mögen keine ausgebildeten Schauspieler sein, aber sie zeigen so bestürzend viel Wahres in ihren Rollen, dass auch dem Zuschauer die Luft wegbleibt, wenn er sie anschaut.
Manchmal denkt man, das ist Neorealismus. Oder man erinnert sich an die Wirklichkeitsnähe von Andreas Dresens „Halbe Treppe“ oder „Sommer vorm Balkon“. An die Stille in Christian Petzolds nomadischem Berlinfilm „Gespenster“. An „Nordrand“ oder eine andere Sozialtragödie der Österreicherin Barbara Albert. Aber Valeska Grisebachs Einfachheit ist nicht minimalistisch, sie hat mimetischen Zauber. Markus wird sein eines Leben als Schlosser in Zühlen zu klein und er kann doch nicht aus seiner Haut. Ebenso wird es den Bildern gleichsam zu eng in dieser Welt, die Gefühle und Sehnsüchte dieser unscheinbaren Menschen mit den plumpen Körpern und den unbeholfenen Sätzen sprengen das Format. Das Schnöde, das Spröde wird schön auf diese Weise – und ist doch nicht stilisiert. Man sieht das nicht oft im Kino. Und man ahnt, wie heftig Valeska Grisebach, die im wirklichen Leben eher eine Schnellsprecherin ist, um alles Irdische wirbt, damit sich die Wirklichkeit dazu verführen lässt, so mythisch zu werden. Selbst der Wind, wenn er rauscht, wird ein himmlisches Kind.
Und am verzweifelten Ende, nachdem sich aus der Schrotflinte in der Werkstatt ein Schuss gelöst hat und der Hase in seinem Stall ungerührt weiter Salat futterte, weil die Natur nun mal gleichgültig ist gegenüber dem menschlichem Leid – nach diesem dramatischen, lakonischen Ende sitzen die Kinder auf dem Spielplatz und erzählen sich vom Mann und den zwei Frauen, wie man sich ein Märchen erzählt oder eine Legende, die noch in hundert Jahren nicht vergessen sein wird.
Ab Donnerstag in den Berliner Kinos Broadway, Filmtheater am Friedrichshain, fsk und Kino in der Kulturbrauerei
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