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Maskenspieler. Monsieur Merde (Denis Lavant) futtert Friedhofsblumen.
© dapd/Arsenal Filmverleih

Autorenkino: Homunkulus aus der Unterwelt

Somnambul und selbstverliebt: Leos Carax’ Paris-Film „Holy Motors“ feiert vor allem die eigenen Bildermythen. Immerhin spielt nicht nur sein Alter Ego, Denis Lavant, mit, sondern auch Kylie Minogue, Eva Mendes und Michel Piccoli treten auf.

Lau mag das Festival in Cannes im Mai insgesamt ja gewesen sein, zwischendrin aber wurde es mal richtig laut. Tagelang feierten die französischen Medien „Holy Motors“, den neuen Film von Leos Carax. Eine „Sternschnuppe über Cannes“ sichtete „Libération“. Der „Nouvel Observateur“, sonst eher nüchtern, erkannte auf „mehr als Meta-Kino“, „Les Inrockuptibles“ fand das Ding schlicht genial. Nur der „Express“ verweigerte sich den „Cannes-Ekstasen“, entzündet an einem „Genie der Weltkultur, das Blei in Gold verwandelt“. Im Juli, als der Film in Frankreich ins Kino kam, verwandelte sich das Mediengold schnell in Blei: Kaum über 100 000 Zuschauer gelten, bei solchem Medienhype, als Einspielpleite in Cineastenland. Und die 300 User-Kommentare auf allocine.fr artikulieren überwiegend Befremden, Unverständnis, Langeweile.

Dabei waren die Erwartungen allerseits riesig. 13 Jahre ist es her, dass Carax, der Anarcho unter den Regie-Legenden, „Pola X“ präsentierte, „Die Liebenden von Pont Neuf“ stammt gar von 1991. An seinem Paris-Melodram mit Juliette Binoche und Denis Lavant hatte er bis zum Budgetruin drei Jahre gedreht. Und, sehr fern in den 80er Jahren, funkeln seine frühen Leuchttürme „Boy Meets Girl“ und „Mauvais sang“. Kein Wunder, dass dem vielberaunten Seltenfilmer à la Terrence Malick zunächst wieder nichts Geringeres als die Gottähnlichkeit angetragen wurde. Tatsächlich aber erweist sich „Holy Motors“, seines kinematografischen Verweisschilderwalds beraubt, als recht simples Konstrukt, und das betrifft die narrative Basis ebenso wie den Bedeutungsüberbau.

Geschildert wird ein typischer Tag im Leben von Monsieur Oscar (wieder Denis Lavant, Carax' Lieblingsschauspieler). Neun Termine stehen in seinem Kalender, sein Pensum arbeitet er mit geradezu bürokratischer Zuverlässigkeit ab. Bei manch sensiblem Beobachter stellt sich angesichts der episodischen Billigbauweise spätestens nach Termin Nummer drei eine gewisse Rezeptionsallergie ein: Arbeitstage kennt er selber.

Was aber, wenn Oscar, den wir am Morgen als steinreichen Geschäftsmann kennenlernen, sich alsbald in eine alte Bettlerin, einen Killer und sein Opfer, einen kleinbürgerlichen Familienvater, einen verdreckten Kanalisationsbewohner, einen Sterbenden im Luxushotel sowie den Haushaltsvorstand einer Zwergschimpansenfamilie verwandelt? Dann ist das alles bloß Theater, und der Fond seiner von einer smarten Dame namens Céline (Edith Scob) gesteuerten Stretchlimousine nur die Bühnengarderobe. Entsteigt ihr Oscar zu seinen Einsätzen, erwarten den Zuschauer schlichte Sketche, nur dass sie eher lang als lustig sind. Den Schlüssel dazu, auch das ist nicht besonders tiefschürfend erdacht, liefert Carax höchstpersönlich. Anfangs erwacht er in einer Art Hafenhotel und begibt sich, auch im Dunkeln stets mit Sonnenbrille, durch eine Tapetentür in ein mit stummen Figuren gefülltes Lichtspieltheater. Auf der Leinwand beginnt der Film, den wir sehen. Die somnambule Szene ist nicht ohne Schauwert; ihr dramaturgischer Sinn aber erschöpft sich darin, die Rückkehr des Leos Carax in die Welt des Kinos anzuzeigen.

Was folgt, ist serieller Mummenschanz, der die Verwandlungsfähigkeit des Hauptdarstellers eher technisch unter Beweis stellt. Nur zweimal scheint die Willkür einer in jeder Einstellung massiv behaupteten Fantasie, die ihr Bildermaterial dann allerdings fantasielos abhäkelt, durch einen Reflektionsimpuls gebrochen. Auf Termin Nummer vier holt Oscar seine halbwüchsige Tochter von einer für sie katastrophal verlaufenen Party ab, und im Auto peinigt er sie mit dem Hinweis, zeitlebens „du selbst“ sein zu müssen. Darf man Oscars Auftrag, von Rolle zu Rolle eilen zu müssen, also als Privileg verstehen?

Der zweite – überdeutliche – Versuch, dem Geschehen eine gewisse Tiefe zu verleihen, ist filmästhetischer Art. Oscar beklagt in einer Arbeitspause, die Kameras würden immer kleiner, ja, sie verschwänden ganz, worauf ein in der Limousine sitzender alter Mann (Michel Piccoli), womöglich Oscars Auftraggeber, raunt, die Schönheit liege im Auge des Betrachters. Doch den kulturpessimistischen Blick aufs digitale Kino hat Oscar selbst bereits demontiert. Denn auf Termin Nummer zwei tanzt er als mit Leuchtdioden besetzte Motion-Capture-Figur einen erotischen Pas de deux mit einer höchst biegsamen Akrobatin, ihre Bewegungen werden computeranimierten Figuren angepasst. Und, siehe da, es bleibt die mit Abstand faszinierendste Episode. Der Rest ist Zitat. Und Selbstzitat.

Die chronofotografischen Bewegungsstudien: Hommage an den Filmpionier Etienne-Jules Marey. Die Kinopuppen: Anspielung auf den Schluss von King Vidors „The Crowd“ (1928). Célines Maske: Edith Scob spielte die Hauptrolle in Georges Franjus Horrorklassiker „Augen ohne Gesicht“ (1959). Der Unterwelthomunkulus, der Eva Mendes entführt: Monsieur Merde aus Carax' Beitrag zum Episodenfilm „Tokyo“ (2008). Und der Pont-Neuf natürlich: Auf dem Dach des nahen Kaufhauses Samaritaine singt Kylie Minogue mit schwacher Stimme ein Liebeslied, bevor sie sich in den Tod stürzt. Keine Sorge, auch sie will nur spielen.

„Holy Motors“ – der Titel meint die Stretch-Limos ebenso wie die Analogkameras und Zelluloidfilm-Projektoren – galt in Cannes zeitweise als heißer Anwärter auf die Goldene Palme. Oder den Regiepreis. Oder zumindest den Darstellerpreis. Der Film ist dann, zum Ingrimm vor allem der französischen Kritiker, leer ausgegangen. Schade, dass er nicht überwiegend auf Englisch gedreht wurde. Dann hätte, nächstes Jahr in Los Angeles, Monsieur Oscar Chancen auf die beste Maske.

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