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Kultur: Hinter dem Höllentor

Mit „Willkommen in Falconer“ begibt sich John Cheever in die Abgründe der Gefängniswelt.

Wenn die Kritik einen Autor adeln will, zieht sie Tschechow aus dem Ärmel. Alice Munro wird gern „der Tschechow Kanadas“ genannt, und John Cheever, der in diesen Tagen seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte, ein „Tschechow der Vorstädte“. Das rauschhafte amerikanische Leben in den Nachkriegsjahrzehnten, als unbegrenzter Konsum und Sex noch ein naives Glück versprachen, hat mit dem vorrevolutionären Russland zwar kaum etwas zu tun, aber in der Beschreibung enger gesellschaftlicher Konventionen und dem aufwühlenden Leiden meist männlicher Figuren steht Cheever seinem Lautverwandten in nichts nach.

Beide malen mit fast masochistischer Lust die Qualen sinnentleerten Lebens nach, wobei es im Cheeverschen Untergrund viel gewaltiger brodelt als in den fein gezeichneten Geschichten Tschechows. Als Sohn aus zerrütteten Verhältnissen wollte Cheever nichts sehnlicher, als dazuzugehören. Kaum hatte er durch den Erfolg als Schriftsteller sein Ziel erreicht, schlug er die Idylle kurz und klein, um in den Trümmern der wahren amerikanischen Werte – Doppelmoral, Rassismus und exzessivem Alkoholkonsum – doch so etwas wie eine archaische Heiligkeit der Kleinfamilie aufblitzen zu sehen.

Cheevers Realismus ist ein Scheinrealismus, er strebt ins Allegorische, und seine Figuren sind viel durchgeknallter, als es das Setting von Schwimmbad, Eis-im-Whiskyglasgeklimper und gepflegtem Partnertausch vermuten lässt. Der Held der Erzählung „Der Schwimmer“ beschließt eines Nachmittags, alle Pools seiner Siedlung zu durchschwimmen, taucht wie ein geheimnisvoller Urwaldmensch in Badehose auf den Grillpartys auf, nimmt einen Drink und krault dann weiter. In dem im letzten Jahr neu erschienenen Roman „Die Lichter von Bullet Park“ wird ein harmloser Familienvater an die Tür einer Vorortkirche genagelt.

Es ist daher nur auf den ersten Blick verwunderlich, dass Cheever in seinem vorletzten Roman „Falconer“ ein ganzes Buch in einem amerikanischen Bundesgefängnis spielen lässt. Das Gefängnis „Falconer“ ist nicht nur Auffangbecken für ganzkörpertätowierte Elendsgestalten, sondern auch Endstation für vertraute Cheever-Typen, gebildet, aber kaputt, für lebenshungrige Halbtote aus dem desolaten Mittelstand. Männer, die ihre Frauen umbringen, weil sie deren Seitensprünge nicht mehr aushalten oder, wie Hauptfigur Ezekiel Farragut, die dreiste Dummheit des älteren Bruders nicht mehr ertragen und ihn kurzerhand mit einem Schürhaken erschlagen.

Als „Falconer“ 1977 in Amerika erschien, stürmte das Buch die Bestsellerlisten, hierzulande versank der Roman, den viele für Cheevers besten halten, dagegen schnell in Vergessenheit. In der geschmeidigen, zeitgemäßen Übersetzung von Thomas Gunkel ist er nach den Wapshot-Romanen, einer Erzählungssammlung und „Bullet Park“ der fünfte Cheever, den DuMont unter dem Titel „Willkommen in Falconer“ neu herausbringt. Ezekiel Farragut also, heroinsüchtiger Universitätsprofessor (Cheever selbst war Alkoholiker), der bei der Einweisung ins Gefängnis vor einem Tribunal Rede und Antwort stehen muss: „Sie (haben) unter dem Einfluss gefährlicher Drogen das abscheuliche Verbrechen des Brudermords begangen. Schämen sie sich nicht?“ – Farragut antwortet: „Ich möchte sichergehen, dass ich mein Methadon bekomme.“ So wie seine Figur geht auch Cheever lange über die Tat hinweg, versammelt stattdessen ein familienartiges Personal – den Hahnrei, den fetten Aufseher Tiny, den Ganzkörpertätowierten, der sich Chicken Number Two nennt und Farragut mit auf den Gefängnisweg gibt: „Am Ende einer Reise steht immer etwas Gutes, und deshalb wollte ich dir sagen, dass alles ein schrecklicher Irrtum ist.“

Stilistisch brillant, mit quecksilbrigen Wendungen, die Szenen unvermittelt enden oder Monologe ausufern lassen, angetrieben von einem sarkastischen Groll, geht es um den demütigenden Alltag und die Momente unverhofften Glücks oder blitzhafter Erkenntnis. Es wird von Katzenmassakern erzählt, von kollektiver Masturbation, von Ausbruchsversuchen und den wenigen Besuchen von Farraguts Frau Marcia, die umwerfend schön ist, aber von gnadenloser Egozentrik.

Es dauert eine Weile, bis man merkt, dass die Tat keinerlei Rolle spielt. Das Gefängnis ist schlicht die Hölle auf Erden, der andere Ort, an dem die Insassen als Vertreter einer globalen Schuld stellvertretend für die Verfehlungen aller leiden. „Mein Leben ist eng angelehnt an das traditionelle Leben der Heiligen, doch ich scheine von der gesegneten Gemeinschaft aller Gläubigen vergessen worden zu sein“, schreibt Farragut in einem fiebrigen Beschwerdebrief an den Bischof. Wenn Farragut Scham umtreibt, dann wegen der berührenden Affäre mit dem jungen Jodie, die sich während der Haft entwickelt. An dem Ausnahmeort Gefängnis hat John Cheever, der – wie man in seinen Tagebüchern lesen kann – unter seiner Ehe und seiner Bisexualität stark gelitten hat, sich das einzige Mal erlaubt, über homosexuelle Liebe zu schreiben.

In diesem Sinn ist das Gefängnis auch eine Art Wahrnehmungsintensivierer, ein Gefühlsverstärker einerseits – „es geht um den vollen Klang, die tiefen Flüsse, die unveränderliche Tiefe der Sehnsucht, der Liebe und des Todes“ – und ein Ich-Zerstörer andererseits. In einer grandiosen oder vielleicht grandios albernen Szene lässt sich Farragut schließlich (wie viele Jahre sind vergangen?) im Leichensack des verstorbenen Chicken Number Two aus dem Gemäuer tragen, um in einer Zigarettenpause der Bestatter aus der Höhle zu kriechen und im Wald zu verschwinden.

Das Erhabene neben dem Ordinären, dazwischen schießende Assoziationen, abwegig und einleuchtend zugleich – der Fluss dieser Prosa ist von einer sprudelnden Klarheit und „Willkommen in Falconer“ ein Meisterwerk, das man nach dem letzten Satz „Freu dich, dachte er, freu dich“ gleich wieder von vorn beginnt.

John Cheever:

Willkommen in

Falconer. Roman. Nachwort von Peter Henning. Aus dem Amerikanischen von Thomas Gunkel. DuMont Verlag, Köln 2012. 224 S., 19,99 €.

Andreas Schäfer

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