Klassik-CD der Woche: Himmlische Armee
Blühende Geheimnisse und vergessene Gräber: Die CD "Russia" des SWR Vokalensembles Stuttgart vereint russisches Chorwerke aus zwei Jahrhunderten.
Vor wenigen Tagen hätte Gidon Kremer in der Semperoper das Konzert „All About Gidon“ spielen sollen. Doch der „Capell-Virtuoso in residence“ änderte seine Pläne, wegen der Ereignisse in Russland und der Ukraine. Ad hoc stellte er das Programm „Mein Russland“ zusammen. „Für mich besteht die wahre Loyalität dem eigenen Land oder dem Publikum gegenüber darin, sich für geistige Werte einzusetzen und nicht Politikern als gefügige Marionetten zu dienen, die lauthals falsche Parolen und scheinbar machtvolle Doktrinen ausgeben, die dem Leid der Menschen und ihren Tragödien tatsächlich jedoch vollkommen gleichgültig gegenüberstehen“, erklärte der Geiger.
Die CD „Russia“ des SWR-Vokalensembles Stuttgart spricht Kremer aus dem Herzen. Die Aufnahme vereint russische Chorwerke aus zwei Jahrhunderten, a cappella: Die orthodoxe Kirchenmusik lässt bis heute keine Instrumentalbegleitung zu. Ein Reinheitsgebot, das eine ganz eigene Kraft erzeugt und dabei zutiefst menschlich bleibt. Schnittkes „Drei geistliche Gesänge“ sind darunter, eine Heimatsuche, die die dynamische Spannbreite orthodoxer Musik umschließt – und bei Marcus Creed in den allerbesten Händen liegt. Der Chef des SWR-Vokalensembles leitet seine fantastischen Sänger zart und klar vom vierfachen Piano bis zum dreifachen Forte, wie es Rachmaninow in seinem weit ausschwingenden geistlichen Konzert vorsieht.
Gubaidulinas Hommage an Marina Zwetajewa bewahrt das blühende Geheimnis ihrer Lyrik bis in den „Garten“, der der Seele Ruhe schenken möge „für diese Hölle, für diesen Wahnsinn“. Dazu Tanejews Gedanken an einem vergessenen Grab und die Meditationen von Glinka und Tschaikowsky über den Cherubim-Hymnus: Leuchtklänge der himmlischen Heerscharen, die jede irdische Armee ins Unrecht stoßen. Sanft, aber unmissverständlich.
Erschienen bei Hänssler Classic
Ulrich Amling