Kultur: Himmel und Höhle
Vater, Sohn & Enkel: Die Böhms sind eine Architekten-Familie, in der jeder seinen Weg verfolgt. Nur in einem sind sie sich einig: Sie bauen gerne Kirchen.
Der Bildschirm blüht. Vorne die Wiese, hinten die Berge: Allgäuer Idylle in Köln-Marienburg. Ein Bildschirmschoner, ein Sehnsuchtsort.
Paul Böhm wollte einmal Bauer werden und später Landschaftsarchitekt. Am Ende wurde er, was er eigentlich nicht werden wollte, was seine großen Brüder, sein Vater und seine Mutter schon waren, was sein Großvater einst gewesen ist: Architekt.
Sein Arbeitsplatz sieht wie ein Spielplatz aus. Auf dem Schreibtisch steht ein Plastilin-Modell, an dem er immer wieder knetet. Der 46-Jährige benutzt den Computer nie zum Entwerfen. Dafür hat Paul Böhm immer Zettel und Bleistift parat, auch neben dem Bett, dann formt er mit den Händen Wohnhäuser, Bürohäuser, Krankenhäuser – und Kirchen wie diese, die zugleich Konzertsaal sein soll, ein Entwurf für ein Projekt in Wünsdorf. Erst wenn er sich für eine Form entschieden hat, überträgt Böhm die dreidimensionale Vorlage in den Computer: um zu prüfen, ob auch alles stimmt.
Böhms Büro liegt im ersten Stock des Hauses im Kölner Villenviertel, das Großvater Dominikus 1932 für sich und seine Familie baute: ein Musterbeispiel der weißen Moderne, zur Straße hin sehr schlicht und dicht, zum großen Garten hin ganz offen, mit Stahlfensterbändern, die so elegant wie zugig sind. Ein helles Haus, das bis heute frisch wirkt. Die Spuren des Gebrauchs trägt es mit Anmut.
Das Haus, in dem Pauls Vater Gottfried groß geworden ist und lange gearbeitet hat (später hat er sich dazu noch ein Haus in den Garten gestellt), dient heute seinen Söhnen Peter und Paul als Büro. „Gute Architektur“, sagt Gottfried Böhm, „muss mehrere Nutzungen aushalten.“
Gottfried Böhm ist seit 60 Jahren Architekt, einer der großen Deutschlands, lange Zeit Professor, seit 20 Jahren emeritiert. 1986 wurde er mit dem Pritzker Preis ausgezeichnet, dem mit 100 000 Dollar dotierten „Nobelpreis für Architektur“ – als einziger Deutscher zwischen internationalen Stars wie Frank Gehry und Norman Foster, Renzo Piano und I.M.Pei. Er ist 85 Jahre alt – und noch immer „der Sohn“. Wenn von ihm die Rede ist, dann heißt es im nächsten Nebensatz: „der Sohn von Dominikus Böhm“.
Gottfried Böhm ist gerne Sohn, im hohen Alter auf jeden Fall; seinen Vater, dessen Büro er übernommen hat, betrachtet er noch immer als Richtschnur. Das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt hat beider Archive zusammen übernommen.
Dominikus Böhm war einer der wichtigsten deutschen Kirchenbauer des 20. Jahrhunderts. Er ist bis heute der einzige deutsche Architekt, der es, 1953, auf den Titel des „Spiegel“ geschafft hat, unter der Überschrift: „Gott wohnt auch in Bimsbeton“. Eine monumentale Gestalt, was die Wucht seiner Bauten und seine Figur angeht – ein Mann von „erfrischender Monumentalität“, wie sein Sohn sagt. Egal, ob der Katholik Bier trank, redete oder schlief, „das war alles mit Wucht“. Und hier, im alten Wohnzimmer seines Hauses, das heute als Besprechungsraum dient, hat er immer mittags geschlafen, hier hat er auch musiziert. „Wenn er Ärger hatte, ist er hoch gekommen, und hat stundenlang Klavier gespielt.“ Seine Gebäude sind ein bisschen wie gebaute Musik, so wie die Bauten von Gottfried, der erst Bildhauer werden wollte, etwas sehr Plastisches haben. Am deutlichsten ist das bei seiner, Gottfried Böhms, spektakulärer Pilgerkirche Maria Königin des Friedens in Neviges, ein wahres Beton-Gebirge.
55 Kirchen hat sein Vater Dominikus Böhm gebaut, die berühmteste steht in Köln-Riehl: die „Zitronenpresse“, wie St. Engelbert genannt wird wegen der acht herausstehenden parabolischen Bögen. Die Kirche brachte Böhm Ruhm und Ärger ein. Die „New York Times“ stellte sie noch vor ihrer Eröffnung 1932 vor – weil „sie sich rigoros von traditionellen Bauformen lossagt“. Revolutionär waren schon die Materialien: Außen mit Backsteinen verkleidet, hatte der Architekt den hohen Raum aus nacktem Beton gebaut, das sich leichter formen ließ. Gerade die Form aber brachte ihm den Ärger ein. Das Kölner Generalvikariat sah darin etwas „Fremdartiges“, „Primitives“, mehr Orient als Abendland, wie es hieß. Der „Westdeutsche Beobachter“ meinte gar, man müsse den Architekten wegen Gotteslästerung belangen. Dabei wollte Dominikus Böhm Gott gerade einen neuen Raum schaffen. Im Zuge der liturgischen Reformbewegung entwarf er offene, zentrale Räume, rückte den Altar in die Mitte: Die Gemeinde sollte Gemeinschaft sein.
Paul Böhm, der Enkel, hat seinen Großvater nie kennen gelernt. Als er 1959 in Köln geboren wurde, war jener schon vier Jahre tot. Aber er hat ein Bild von ihm: So, wie er ihn von Fotos kennt, stellt er ihn sich als Gemütsmenschen vor, der seine drei Söhne auf dem Schoß hält, der mit dem Spazierstock durch die Felder spazierte, mit dem er dem Polier auch gern seine Vorstellungen in den Sand malte.
Dabei hatte der Großvater durchaus cholerische Züge. Sein Sohn Gottfried wirkt eher wie das Gegenteil, groß und schlank, ein feiner, eher introvertierter Mann. Auch wenn er fast sein ganzes Leben in Köln gelebt hat, spricht Gottfried Böhm noch immer mit süddeutschem Akzent. In Offenbach geboren, hat er in München studiert, dort hat er seine Frau Elisabeth kennen gelernt, Architektin wie er, seine wichtigste Kritikerin, mit der er seit 57 Jahren verheiratet ist. Einmal an diesem Nachmittag kommt sie hereingetrippelt, sie arbeitet gerade an einem Buch über die eigenen Arbeiten, ihre Visionen einer vertikalen Stadt: „um die Landschaft nicht zu verbauen“.
„Väter und Söhne“, so hieß eine Ausstellung der Kunsthalle Bielefeld, die 1994 die drei Generationen vorstellte. Die Söhne, das sind Stephan, Architekt mit Professur in Münster, Peter, Architekt, Paul, Architekt, und Markus, der als Informatiker eine Weile im Büro des Vaters mitgearbeitet hat und dies heute als Künstler tut. Das Deckengemälde in Gottfried Böhms Berliner Peek & Cloppenburg-Haus am Tauentzien stammt von ihm. Der Vater hat die Söhne nicht gedrängt, seinen Beruf zu ergreifen, so wenig wie sein Vater es getan hat. Gefreut hat’s ihn schon.
Als Jugendlicher fand Paul Böhm, dass zu Hause viel zu viel über Architektur geredet wurde, wo er sich doch für ganz andere, politische Themen interessierte. Aber nach seinen Praktika bei Bio-Bauern und Landschaftsarchitekten entschloss er sich doch, das zu tun, was er schon als Kind gemacht hatte: Im Garten hatte er kleine Häuser gebaut, sein erstes öffentliches Gebäudes hat er als Teenager gemauert – eine ganz kleine Kapelle am Wegesrand, ein Dach überm Kopf einer religiösen Figur. Der Entwurf stammte vom Vater. In seiner Dankesrede für den Pritzker-Preis redete dieser nicht über seine großen Rathäuser, Theater, Kirchen und Banken, sondern dieses winzige Ding. „Weil’s mit dem Paul war,“ wie er heute sagt, „weil’s klein ist, und weil es so selbstverständlich dasteht, als wär’s schon immer da gewesen. Und trotzdem sieht man der Kapelle an, dass sie von heute ist.“
Vater und Söhne reden mit Respekt und Wärme, aber auch Zurückhaltung übereinander. Denn auf Selbstständigkeit und Unabhängigkeit, die eigene wie die der anderen, legen alle genauso viel Wert wie auf die familiäre Verbundenheit. So wirken sie auch in der Branche eher wie Einzelgänger, die keiner Stilrichtung, schon gar keinem Klüngel angehören. Wie andere es schaffen, sich neben ihrem Beruf und der Familie auch noch in der Architekturszene zu engagieren, ist Paul Böhm ohnehin ein Rätsel. Er sieht seine Frau und seine zwei Kinder so schon selten genug.
Denn ein Spielplatz ist sein Arbeitsplatz nicht. Allein die ganze Bürokratie, die inzwischen einen Großteil der Zeit auffrisst! Alles muss genau durchgeplant und berechnet sein, bis zur letzten Schraube. Früher, so Gottfried Böhm, gab man eher Schätzpreise an, „man hat viel mehr mit den Handwerkern geredet. Heute sind die froh, wenn sie den Architekten auf der Baustelle nicht sehen.“ Und dann die Wettbewerbe! Einer nach dem anderen und selten honoriert. Heute sind es schnell mal ein paar Hundert Kollegen, die Entwürfe einreichen. Wettbewerbe sind wie ein Lottospiel: Jeder kann verlieren. Auch Gottfried Böhm. Gerade ist er beim Hildesheimer Dom „durchgefallen“, sagt er und lacht. „Ich war mir sicher, dass ich gewinne!“ Sohn Paul ist es gerade so mit einem Schwimmbad gegangen. Und selbst wenn man den ersten Preis gewinnt, heißt das noch lange nicht, dass man ihn dann auch baut. Im großelterlichen Haus steht ein Modell von Paul Böhms gläsernem Entwurf für das Bonner Haus der Post; in zwei Runden wurde er dafür mit dem ersten Preis ausgezeichnet. Aber bauen durfte am Ende Helmut Jahn sein Hochhaus. Im Ulm wiederum durfte Gottfried Böhm als Drittplatzierter seine Bibliothek, eine gläserne Pyramide, in der Altstadt bauen.
Wettbewerbe waren – und sind es noch – ein demokratischer Segen, durch ihre Anonymität geben sie auch unbekannten Architekten eine Chance. Allerdings hat die Anonymität ihre Grenzen. Ein Böhm zum Beispiel ist leicht an seiner expressiven Handschrift zu erkennen. Was nicht unbedingt ein Vorteil ist. Es gibt auch Leute, die neidisch sind auf diese Dynastie, die keine ist – dazu treten ihre Mitglieder zu zurückhaltend auf.
Gottfried Böhm zückt seinen Filzstift, an der Tischkante im alten Wohnzimmer ist etwas abgesplittert, was er nun schwärzt. Im Raum unter uns, wo heute Peter sein Büro hat, mit Blick auf den Garten, hatte Dominikus sich sein Atelier eingerichtet, nachdem er seinen Posten an der Werkschule verloren hatte. Konrad Adenauer, damals Bürgermeister von Köln, hatte ihn 1926 dorthin geholt, das war, bis 1933, seine fruchtbarste Zeit. „Mein Vater war kein Held“, sagt Gottfried über Dominikus Böhm, der sich ein wenig bei den Nazis angebiedert hat, aber genützt hat es ihm nicht. Während des Kriegs zog er sich in sein Heimatdorf im bayerischen Schwaben zurück, kehrte erst 1945 nach Köln zurück, wo er sich dann, zusammen mit seinem Sohn, in den Wiederaufbau stürzte.
Wie viele Kirchen er selbst gebaut hat in seinem Leben, weiß Gottfried Böhm nicht so genau, über 40 auf jeden Fall. Aber die Frage, welche Rolle die Religion in seinem Leben spielt, findet er „ziemlich intim“. Er zögert, lächelt sein sanft amüsiertes Lächeln: „Das muss ich nicht beantworten, oder?“ „Er kannte und schätzte den Wert des Geheimnisvollen“, meinte Gottfried kürzlich in einem Vortrag über Dominikus Böhm. Der sei gar nicht so religiös gewesen. „Sein Verhältnis zur Kirche war sehr gespalten.“ Dass er fromm war auf seine Art, hat Gottfried Böhm als kleiner Junge erlebt, als er mit dem Vater eine kleine Dorfkirche betrat, einen sehr schlichten romanischen Bau. Als er sah, wie ergriffen der Vater war, fragte der Sohn, was denn so schön daran sei. „Dann kam nach längerer Zeit: ,Ja, mein Bua, da geht einem doch das Herz auf.’“
„Wow!“ meinte kürzlich ein Architekturstudent aus Hannover, als er den gewaltigen Raum von Peter Böhms runder Betonkirche in Köln-Vingst betrat. „Ich möchte auch mal ’ne Kirche bauen!“ Wahrscheinlich wird der Traum des Studenten ein Traum bleiben. Kirchen werden heutzutage eher verkauft, geschlossen, umgenutzt. Manchmal sogar abgerissen. Aber nach einem Erdbeben im Rheinland wurde die alte Kirche St. Theodor für baufällig erklärt, so bekam Paul Böhm nach einem Wettbewerb die Chance, seinen aufregenden Entwurf umzusetzen. Wie viele Bauten von Gottfried und Dominikus Böhm hat auch dieser etwas von einer Burg: gewaltig und schützend zugleich, Himmel und Höhle.
Das zieht sich durch alle Generationen: Häuser zu bauen, die geradezu provozierend modern sind und doch etwas Archaisches haben. „Zwischen Gott und Kubismus“ siedelte der „Spiegel“ Dominikus Böhm an. Die Böhms zitieren frühere Epochen nicht, sondern machen etwas Eigenes daraus: Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen.
Was er von seinem Vater Gottfried erben möchte? „Die Hartnäckigkeit“, sagt Paul Böhm. „Und den menschlichen Maßstab.“ Nie die Leute zu vergessen, für die man baut, die Verkäuferinnen zum Beispiel, die den ganzen Tag in seinem Peek & Cloppenburg in Wuppertal stehen werden, denen Paul Böhm möglichst viel Tageslicht geben will. Seine Frau, die Modedesignerin ist und für die Kirche in Vingst das Kirchenfenster gestaltet hat, erinnert ihn oft an die profanen Dinge: Funktioniert das? Würde ich da reingehen? Würde ich da wohnen wollen?
Gottfried Böhm hat am Wiederaufbau nach 1945 teilgehabt, auch seine Söhne haben eine architektonische Boomzeit erlebt: nach der Wende. Nur war die sehr viel schneller vorbei. Auch die Böhms hat der Einbruch der Konjunktur erwischt, die Brüder rückten zusammen, zogen mit ihren Büros ins großväterliche Haus. Stephan ist inzwischen aus- und um die Ecke gezogen, Peter und Paul sind geblieben, führen aber getrennte Büros, teilen sich nur die Administration.
Es geht, glaubt Paul Böhm, ein fröhlicher Rheinländer, wieder bergauf. Und sowieso geht’s weiter. „Man könnte ja meinen, dass alles schon gebaut ist. Aber die Bedürfnisse verändern sich ja ständig.“ Wenn immer mehr Leute zu Hause arbeiten, müssen auch die Wohnungen anders aussehen. In China, wo viele deutsche Architekten ganze Städte aus dem Boden stampfen, sieht Paul Böhm sein Heil nicht, es sei denn, er zöge dort hin. Einen Entwurf abzugeben, und zwei Jahre später zur Eröffnung hinzufliegen, „das ist nicht mein Verständnis von Architektur“. Wie sein Vater will er erleben, was aus seinen „Plastilinknübbelchen“ wird, dem Bau beim Wachsen zusehen.
„Es geht ja erst mal darum, sehen zu lernen“, sagt Paul Böhm, als er von seinen Ausflügen mit den Kindern erzählt. Bisher hat Pauls kleiner Sohn Anton erklärt, er wolle Hotelier werden. Aber bei seinen Spielen hat er sich bisher weniger um die Gäste als die Herbergen gekümmert, hat fantastische Entwürfe gemalt von Unterwasserhotels, ganze Hotelburgen. Auch damit könnte er die Kirchenbauerfamilientradition fortsetzen. „Auch das Profane hat ja immer etwas Sakrales“, sagt Gottfried Böhm, als er von seinem Entwurf für das Hans Otto Theater in Potsdam erzählt, ein imposantes Dach, das wie eine schützende Hand über dem Publikum schwebt. „Der Umgang mit dem Leben hat ja immer was von Behütenwollen.“
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