Kultur: Herz ist stumpf
Anja Silja triumphiert in Tschaikowskis Glücksspieldrama „Pique Dame“ an der Komischen Oper Berlin
Die Szene hat dramaturgisch keine Funktion: Zu Beginn des zweiten Bildes von Tschaikowskis "Pique Dame" trällern die Choristinnen ein Liedchen, dann trägt Polina eine sentimentale Ballade vor. Und doch sehnt man sich am Sonntag bei der Premiere des russischen Glücksspieldramas an der Komischen Oper schnell nach diesem belanglosen Zwischengeplänkel. Weil die beiden Gesangsnummern nur vom Klavier begleitet werden: zart, sanft und leise. Drumherum veranstaltet Dirigent Alexander Vedernikov nämlich einen Radau, der Intensität mit Lautstärke verwechselt, die Sänger zum Forcieren treibt. Vor allem die Ensembleszenen wachsen sich zum schwer erträglichen Vokalgetümmel aus.
Wer noch die "Pique Dame"-Abende beim Gastspiel des Petersburger Marijnskij-Theaters im Oktober an der Deutschen Oper im Ohr hat, die glühende Leidenschaft, mit der Valery Gergiev und seine Truppe das Werk zu mitreißendem Leben erweckten, hört fassungslos zu, wie wenig Sinn Verdernikov für Tschaikowskys Musiktheatralik besitzt. Mag das Orchester der Komischen Oper technisch auf gewohnt hohem Niveau spielen, hier findet sich nicht die Spur von Eleganz und Leichtigkeit, wenn der Komponist mit Blick auf die zeitliche Verortung seiner Oper Rokoko-Galanterie imitiert, hier kommt beim nächtlichen Showdown im Boudoir der Gräfin keine Gänsehautatmosphäre auf. Ein verkrachter Abend, an dem das Dogma der Deutschsprachigkeit so schwer wiegt wie lange nicht an diesem Haus: Denn wenn die Melodien keinen Zauber entfalten, liegt das eben auch an der Textfassung von Bettina Bartz und Werner Hintze, die jeden Mut zur Poesie vermissen lässt, bürokratisch wirkt, die Sanglichkeit der russischen Sprache nicht einmal ansatzweise in die Übersetzung hinüberzuretten vermag.
Der Regisseur vertraut dem Libretto nicht
Mit seiner Inszenierung von "Hoffmanns Erzählungen" hatte Thilo Reinhardt vor zwei Jahren der chronisch suboptimal ausgelasteten Komischen Oper einen Trumpf in die Hände gespielt: Alle Vorstellungen seiner Offenbachiade waren stets restlos ausverkauft. Bei der "Pique Dame" aber hat sich der Regisseur jetzt gründlich verzockt. Er lässt das Stück im heutigen Moskau spielen, Lisa gehört bei ihm nicht zur Adels-, sondern zur Neureichen-Clique. Das macht sie für den mittellosen Hermann ebenso unerreichbar, deshalb setzt er alles daran, sein Glück im Spiel zu machen. Er will auf einen Schlag reich und damit gesellschaftsfähig werden. Dafür versucht er mit allen Mitteln, Lisas Großmutter das Geheimnis jener drei Karten zu entlocken, die todsicher gewinnen. So weit, so nachvollziehbar. Aber würden sich finanzstarke Russen 2009 in dem murchelfarbig möblierten Foyer eines renovierungsbedürftigen Hotels versammeln, wie es Bühnenbildner Paul Zoller erdacht hat? Und würden die Damen der halbseidenen Gesellschaft dabei solche Stadttheater-Fundusfummel tragen (Kostüme: Katharina Gault)? Njet, niemals. Die Optik also ist schief - und Reinhardts Auflösung des Konflikts auch: Lisa springt nicht aus Verzweiflung über Hermanns Gewinnsucht in die Newa, sondern folgt ihm ins Casino, wo sie mehrfach vergewaltigt wird, während er starr auf den grünen Filz des Spieltisches starrt. Als Hermann alles verliert und einen Revolver auf sich richtet, wirft sich Lisa ihm in den Arm und löst dadurch ungewollt den Schuss aus, der ihn tötet.
Sexappeal wie Hape Kerkling als Horst Schlemmer
Warum nur vertraut der Regisseur nicht dem Libretto, das ein packendes Finale anbietet, in dem Hermann die entscheidende Partie gegen Lisas Verlobten verliert? Zumal Reinhardt selber zuvor den Konflikt zwischen Fürst Jeletzki und dem Habenichts dadurch angeschärft hat, dass er entgegen der Tradition den Adligen mit einem attraktiven jungen Mann besetzt, Hermann aber als schlaffen Spießer zeigt. Mit Kassenbrille und Trenchcoat verströmt Kor-Jan Dusseljee genau so viel Sexappeal wie Hape Kerkeling als Horst Schlemmer. Im Gegensatz zu dem Comedian ist der Tenor allerdings zu keinerlei ironischer Brechung seiner Figur fähig, ebenso wenig wie zu differenziertem Singen. Eine schwere Hypothek für die Inszenierung. Schauspielerisch blass bleiben auch die anderen Protagonisten, Orla Boylan als (sängerisch solide) Lisa, Mirko Janiska als emotionsloser Jeletzki, Philip Horst als auch vokal chargierender Tomski.
Aus dieser provinziellen Mittelmäßigkeit ragt allein Anja Silja heraus, die grande dame des Regietheaters, der die Opernwelt so viel verdankt. Sie ist eine alte Gräfin von geradezu ätzender Präsenz, im bodenlangen Paillettenkleid wirkt sie wie aus der aktuellen "Kiss me, Kate"-Produktion des Hauses herübergeweht, eine nicht mal vom Alter gezähmte Widerspenstige. Wenn Silja ihre französische Arie singt, die Tschaikowski aus Grétrys Oper "Richard Coeur-de-Lion" von 1784 zitiert, dann hat das nichts mit Barockmusik zu tun, dann macht sie ihr eigenes Ding daraus: ein modernes Chanson. Rücksichtslos. Grandios.
Wieder am 30. Januar sowie am 8., 11., 14. und 27. Februar.
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