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Berliner Artemis-Quartett: Herz durch die Wand

Artemis & Co: Reggio Emilia ist das Mekka der Streichquartette. Ein Festivalmärchen. Hier ist nicht die Kammermusik reif fürs Museum, sondern umgekehrt.

Eine Krähe schwebt in der Vormittagssonne, ein Fuchs guckt aus der Ecke, ein wilder Eber auch. So lustig hatten sie es schon lange nicht mehr im Stadtmuseum von Reggio Emilia, die ausgestopften Tiere, zwischen denen jetzt vier Frauen um die dreißig sitzen und das Scherzo aus Borodins D-Dur-Streichquartett spielen. Im halben Tempo noch. Das Stück ist für Amateure „really tough stuff“, wie Eckart Runge sagt, Cellist des Artemis-Quartetts, der als Lehrer lauscht, während der Fuchs ihm über die Schulter schaut.

Es ist Streichquartett-Zeit in Reggio Emilia. Wer den Vierer ohne Steuermann für eine aussterbende Gattung hält, die von Profis in halbleeren Sälen und von Laien in stillen Kämmerlein betrieben wird, der sollte im Sommer das norditalienische Städtchen besuchen. Wer so etwas liebt, erst recht. Hier ist nicht die Kammermusik reif fürs Museum, sondern umgekehrt.

Reggio Emilia ist eine der zentralen Adressen für Streichquartette, und für das Artemis-Quartett aus Berlin begann hier der Weg zum Olymp. Hier wird alle drei Jahre der Premio Paolo Borciani vergeben, beim renommiertesten Wettbewerb für die Zentraldisziplin der Kammermusik. Als Artemis vor zwölf Jahren teilnahm, sprang eine Jurorin auf, rief „Bravi!“ und behielt recht. Das Ensemble wurde Sieger und arbeitete sich seither an die Spitze einer Szene, deren Durchschnittsniveau deutlich über dem des restlichen Musikbetriebs liegt. Nun sind die Artemisten zurückgekehrt: als Stargäste und Lehrer des Festivals, das in jedem wettbewerbsfreien Jahr den Olymp mit der Basis kurzschließt. Das reicht von den öffentlich zugänglichen Proben bis zum Pizzabäcker am Parco del Popolo, der den Ofen heiß hält für die Konzertbesucher – mitunter bis nach Mitternacht.

Was sich in den Theatern, Museen, Unisälen, Kirchen und Palasthöfen der Stadt abspielt, ist geradezu ein Gegenentwurf zu jenen Festspielen, bei denen man sich im Glanz großer Spektakel sonnt. Natürlich macht sich auch in Reggio mancher schick fürs Konzert, viele Ältere pflegen lässige Eleganz. Aber alles andere geht auch. Kammermusikveranstaltern, an einen Altersdurchschnitt von 60 Jahren gewöhnt, müssten Neidtränen in die Augen treten beim Anblick sparsam bekleideter Zwanzigjähriger, die einem 50-minütigen Schubert-Quartett lauschen.

Vielleicht hat die Mischung auch damit zu tun, dass das Festival von jüngeren Leuten geleitet wird, vom Cellisten Mario Brunelli als künstlerischem Chef und der vielsprachigen Organisatorin Francesca Zini. Nicht, dass alle 160 000 Einwohner versessen auf die Musik der 16 Saiten wären – aber man geht hier selbstverständlicher damit um. Aber ist Reggio normal? Wo sonst im autonärrischen Italien wird derart viel Rad gefahren? Alle Veranstaltungsorte im historischen Kern, den weder Massentourismus noch Globalkettenfilialen verunstalten, liegen in einer autofreien Zone. An den Steinbänken am Brunnen vorm Theater erklingt das Abschlusskonzert des vorjährigen Wettbewerbs. So sind sie einander alle nicht fern, die 34 Amateure, die Stars und die jungen Profiquartette, die sich in Meisterkursen verbessern. Gratis übrigens, obwohl der Festivaletat mit 144 000 Euro eng bemessen ist.

Während sich vormittags in den halligen Sälen des Museums zwischen Römertafeln, Vorzeitknochen und gleichmütig wischenden Putzfrauen die Borodins und Schuberts der Amateure überlagern, wird zehn Fußminuten weiter der Profinachwuchs unterrichtet. In der Uni, einem modernisierten Garnisonspalast, lauscht der Bratscher des Artemis-Quartetts dem polnischen Meccorre-Quartett, das den ersten Satz aus Mendelssohns A-Dur-Quartett so mitreißend spielt, dass Friedemann Weigle sagt: „Es wird harte Arbeit, weil das so gut klingt. What about your faces?“ Wie bitte? „Ihr guckt so ernst. Und ihr sitzt so krumm.“ Er stempelt ihnen Smileys in die Noten – und dann geht es ans Eingemachte. Farbe der Akkorde. Der Anfang könnte ohne Vibrato wie von einer Orgel klingen. Das Thema: agressiv? Nein? Warm? „Warm ist kein Charakter.“ Das irritiert – und inspiriert sie.

Weigle oszilliert zwischen Philosophie und Handwerk, was auch Eckart Runge tut, wenn er unter den Krallen der Krähe an der Intonation der Liebhaberinnen aus Florenz arbeitet. Sie sind alle berufstätig und haben Familien, sie kommen nicht oft zum Üben. Er sagt nicht, dass es unsauber ist. Er sagt: „Findet einen Klang für den Anfang jedes Taktes.“ Tonreinheit hat mit Aufeinanderhören zu tun. Wie es ist, wenn vier starke Persönlichkeiten aufeinander hören, das erlebt man abends, wenn das Artemis-Quartett im Studioambiente des Teatro Cavallerizza auftritt. Bis auf den Cellisten spielen sie im Stehen, was bei einer so szenischen Musik wie der des 36-jährigen Jörg Widmann sowieso nicht anders geht. Sein geist- und gestenreiches „Jagdquartett“ endet mit dem Tod des Cellisten, der unter den symbolischen Bogenhieben der Kollegen mit Sauriertönen auf der C-Saite verröchelt.

Das ist nicht albern, denn Widmann holt mit einer Mischung aus Intensität und Witz vermeintlich unmusikalische Realität ins edle Medium Streichquartett, ohne es zu zerbrechen. Die vier stehen dazu: Die energiegeladene Natalia Prishepenko, der Hüne Gregor Sigl, der sein Geiglein unendlich sensibel vor der breiten Brust hält, der aufbegehrend rastlose Cellist Runge, der Bratscher Weigle mit seinem Bronson-Lächeln und Attacken, die an Zorro erinnern. Wenn sie dann Tschaikowskys F-Dur-Quartett spielen, fegt es einen um. Innig glühende Modulationen – und in die heroischen Behauptungen stürzen sie sich im vollen Bewusstsein dessen, was der Leidenschaft entgegensteht. Eine maßlose Musik, mit dem Herz durch die Wand, die zugleich klug, körperhaft, intim ergreifend ist.

Erstaunlich, dass dieses Ensemble sich als weiteren Gast das Miro-Quartett gewünscht hat. Die Amerikaner spielen stramm und geistlos vor sich hin. Was ihnen fehlt, haben manche Amateure umso mehr: das Interesse, mit Tönen aufeinander zu reagieren. Selten klingt Boccherinis E-Dur-Quintett sonniger, spannender als im Theaterkeller, wo ein Elektroingenieur aus Reggio und eine Opernchoristin aus Bologna Geige spielen, ein Komponist umsichtig bratscht, während eine Hausfrau aus Osaka und ein Mathelehrer aus Koblenz auf ihren Celli in höchste Lagen klettern: letzte Probe, ehe die Amateure abends die Plätze der Stadt bespielen.

Vorher ertönt noch der schönste aller Cluster: das Stimmengewirr mittags in der Taverna dell’Aquila – das wohl einzige Lokal der Welt, in dem es Spezialtarife für Kammermusiker gibt.

Volker Hagedorn

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