100 Jahre "Der Sturm": Herwarth Walden: Goldblond ist heute die Nacht
Zentrum der Avantgarde: Vor hundert Jahren gründete Herwarth Walden in Berlin die Galerie „Der Sturm“. Berliner Ausstellungsmacher haben das Jubiläum verschlafen - dafür feiert Wuppertal die "Kunstismen".
Das ist keine Straße, nur ein Stummel. Die Joseph-von-Eichendorff-Gasse geht von der Alten Potsdamer Straße ab und endet an einem Seiteneingang der Potsdamer-Platz-Arkaden. Ein paar parkende Autos, Werbeschriftzüge auf pappbrauner Fassade: Wöhrl, Vodafone, Kaiser’s. Hier muss es gewesen sein, das Zentrum der Avantgarde. Die Adresse lautete damals Potsdamer Straße 134a, das Haus ist längst verschwunden, in dem die Galerie „Der Sturm“ residierte. Schon der Name signalisierte Aufruhr. Herwarth Walden, der seit 1910 eine gleichnamige „Zeitschrift für Kultur und die Künste“ herausgab, wollte Künstlern die Möglichkeit geben, „persönliche Erlebnisse“ zu gestalten, mit „inneren Sinnen“ zu schauen, „innere Gesichte“ auszudrücken. Vor hundert Jahren, im März 1912, eröffnete er seine Galerie. Im September 1921 fand bereits die hundertste Ausstellung statt, viele weitere folgten bis 1930.
Der „Sturm“ machte Künstler wie Franz Marc, August Macke, Gabriele Münter, Marc Chagall oder Robert Delaunay bekannt und half, die „Kunstismen“, Expressionismus, Futurismus, Dadaismus und Konstruktivismus durchzusetzen. Walden war ein ungemein agiler Projektmacher, ein Träumer mit Bodenhaftung, der an einen höheren Auftrag der Kunst glaubte und eine auf die Gesellschaft abstrahlende „Kunstwende“ erhoffte. Oskar Kokoschka, der einige Zeit zu seinen wichtigsten Weggefährten zählte, hat ihn „dahineilend als Kulturkämpfer auf dem Posten“ porträtiert. Das Gemälde zeigt den 34-Jährigen mit nervös gestrichelten Umrisslinien, Zwickerbrille, Denkerstirn und professoraler Halbmähne. Waldens schwärmerisches Urteil über Kandinsky ist auch als programmatischer Haussegen seiner Galerie zu verstehen: „Das stärkste, was Morgen heute bietet.“ Der Expressionismus war für ihn „keine Mode“, sondern „eine Weltanschauung“.
40 von 220 Wuppertaler Exponaten kommen aus Berlin
Hundert Jahre „Sturm“, das ist ein sehr berlinisches Thema, aber um sich einen Eindruck von der Galerie zu machen, muss man bis nach Wuppertal fahren, um nun eine klug komponierte Auswahl von Bildern zu sehen, die einst dort hingen. Die Berliner Museumsleute haben das Jubiläum verschlafen – dabei stammen rund 40 von 220 Exponaten im Von-der-Heydt-Museum aus der Hauptstadt, aus der Berlinischen Galerie, dem Brücke-Museum oder der Neuen Nationalgalerie. Andere Stücke wurden aus dem Pariser Centre Pompidou, dem MoMA und dem Guggenheim-Museum in New York ausgeliehen. Die Bilder, die durch Waldens Hände gingen, gehören heute zur Grundausstattung von Museen in der ganzen Welt.
Aber auch Wuppertal spielt eine Rolle in dieser Geschichte. Aus Wuppertal kam Else Lasker-Schüler, mit der Herwarth Walden in erster Ehe verheiratet war. Von der Dichterin stammt wahrscheinlich der Name für Zeitschrift und Galerie: „Der Sturm“. Und Wuppertal war ein Ort der Moderne, der Museumsmann Richart Reiche zeigte dort schon 1911 Gemälde von Marc und Jawlensky.
Allein für die Auftaktstation der Hommage, der die erste „Sturm“-Ausstellung mit Werken des „Blauen Reiters“ gewidmet ist, lohnt sich die Reise ins Bergische Land. Da hängen 21 expressionistische Inkunabeln nebeneinander in einem Saal, Jawlenskys „Mädchen mit Pfingstrosen“, eine „Dorfkirche“ und ein „Arabischer Friedhof“ von Kandinsky, der „Pierrot“ von August Macke, der „Affenfries“ und die „Blauen Fohlen“ von Franz Marc. Vorausgegangen war der „Sturm“-Präsentation 1912 ein kleiner Skandal.
Als August Macke und Franz Marc im Ersten Weltkrieg fielen, boomten ihre Bilder
Bei einer Ausstellung der Künstlervereinigung Sonderbund in Köln waren Werke des Blauen Reiters aussortiert worden, um mehr Platz für die Altvorderen der Bewegung wie Munch und van Gogh zu schaffen. Kandinsky und seine Freunde waren verärgert und schlossen sich Walden an. Als August Macke und Franz Marc im Ersten Weltkrieg fielen, begann ein patriotischer Heldenkult um ihr Werk, von dem die „Sturm“-Galerie finanziell profitierte. Ein Zugewinn am Zeitgeist, den die radikalen Berliner Dadaisten George Grosz und John Heartfield später Walden vorwerfen sollten.
Wie Else Lasker-Schüler vom elektrischen Licht schwärmt
Herwarth Walden, 1878 als Georg Lewin im brandenburgischen Friedrichsberg geboren, war ein Enthusiast der Verwandlung. „Nichts steht, was sich nicht bewegt. Kreist doch die Welt“, lautete sein Credo. Er studiert Komposition und Klavier in Berlin und Florenz, wendet sich aber von der Musik ab, als er in lebensreformerischen Berliner Kreisen Else Lasker-Schüler begegnet. Sie weckt sein Interesse an der Dichtung, Karl Kraus, den er 1909 in Wien kennenlernt, wird zu Waldens Vorbild in der Polemik. In der Zeitschrift „Sturm“, die anfangs von Kraus auch finanziell unterstützt wird und bis 1932 erscheint, publizieren Adolf Loos, Alfred Döblin, Heinrich Mann und Paul Scheerbart.
Genüsslich attackiert Walden einen Autor der „Vossischen Zeitung“ und spottet: „Die Herren Kunstkritiker werden überrannt. Sie sind von der Kunst erschlagen. und ich bin glücklich, dass ich Hammer sein durfte.“ Else Lasker-Schüler, von der sich Walden 1912 scheiden lässt, rapportiert den Klatsch aus der Berliner Boheme und schwärmt vom elektrischen Licht: „O Herwarth, wie sich die Welt verändert hat; früher war die Nacht schwarz, heute ist sie goldblond.“
"Horde farbensprühender Brüllaffen"
Derlei Technikbegeisterung passt zu der die „Schönheit der Schnelligkeit“ feiernden Kunst der italienischen Futuristen, die Walden in seiner zweiten Ausstellung nach Berlin holt. Die Schau entwickelt sich zu einer Sensation, täglich kommen tausend Besucher, um Luigi Russolos „Revolution“ – einen pfeilförmig marschierenden Demonstrationszug – oder Carlo Carràs „Bewegungen des Mondes“ zu sehen. 1913 eröffnet Walden in einem Abrisshaus an der Potsdamer Straße 75, Ecke Pallasstraße, den „Ersten Deutschen Herbstsalon“. Die Großausstellung mit 366 Katalognummern soll die wichtigsten internationalen Kunstströmungen präsentieren – doch die Kritiken sind vernichtend. Berliner Blätter schreiben von „tollwütigen Pinseleien“ und einer „Horde farbensprühender Brüllaffen“.
Walden konstatierte: „Auch die innere Sichtbarkeit ist sinnlich sichtbar.“ Nach dem Krieg wird das „Kosmische“ zum Leitbegriff im „Sturm“. Konstruktivisten wie László Moholy-Nagy und László Puri zeigen in der Galerie streng geometrische Kompositionen, Kurt Schwitters ist mit seiner „Abfall-Kunst“, dadaistischen Collagen, vertreten. Lothar Schreyer entwickelt eine eigene „Sturm“-Theaterbühne, mit Partituren zur Einteilung von Bewegungen sowie „Worten und Lauten in Takte“, und wechselt später ans Bauhaus.
Auf dem letzten Porträt Waldens, gemalt von Edmund Keating, hat der „Kunstkäufer“ ein sehendes und ein blindes Auge. Weil er Kommunist geworden war, hatte sich seine zweite Ehefrau, die schwedische Malerin Nell Rowland, 1924 von ihm getrennt. 1932 zieht der Galerist mit seiner vierten Frau, der Übersetzerin Ellen Borke, in die Sowjetunion. Er lebt im Moskauer Hotel Metropol, 1941 wird er als angeblicher Spion verhaftet. Walden stirbt am 31. Oktober in einem Lager an der Wolga.
„Der Sturm – Zentrum der Avantgarde“, Von-der-Heydt-Museum Wuppertal, bis 10. Juni. Der zweibändige Katalog kostet 40 €.
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