"Orfeo ed Euridice" an der Berliner Staatsoper: Heroen auf Hexentreppen
Nehmt's mir nicht krumm: Jürgen Flimms Inszenierung von Glucks „Orfeo ed Euridice“ eröffnet die Staatsopern-Festtage, Daniel Barenboim dirigiert.
Wer Festspiele abhalten will, international beachtete zumal, muss eine gewisse Lust an Stars und Spektakel mitbringen und obendrein immer noch ein weißes Kaninchen aus dem Hut ziehen können. Seit 20 Jahren nun schon lädt Daniel Barenboim zu seinen Festtagen der Staatsoper, und Klassikfans aus aller Welt folgen seinem Ruf, ohne dabei aufs Geld zu schauen. Hier gelten jeden Abend Sonderpreise. Klar, dass man dafür auch etwas verlangt, was so nur Barenboim zuwege bringen kann.
Die diesjährige Eröffnungspremiere, Glucks „Orfeo ed Euridice“, wirkt auf den ersten Blick wie eine vornehm zurückhaltende Wahl, geht es dieser Oper doch ganz um Innerlichkeit und Echtheit des Gefühls. Außerdem dringt Barenboim mit ihr noch einmal in bislang unerobertes musikalisches Gebiet vor, in die Umbruchzeit vor Mozart und ihre musikdramatische Sinnsuche. Ein hübscher Kontrast auch im Portfolio seiner Staatskapelle, die unter ihrem Chef jüngst erstmals alle Symphonien Bruckners nach Asien flog.
Wo aber hält sie sich verborgen, die besondere Zutat für den unerlässlichen Festtags-Kick? Alle Welt kennt Barenboim, und Barenboim kennt alle Welt. Frank O. Gehry baut seiner Barenboim-Said-Akademie im ehemaligen Magazingebäude der Staatsoper gerade einen Konzertsaal mit 662 Plätzen, den Entwurf dafür gab’s gratis vom Stararchitekten. Warum soll die 87-jährige Ikone da nicht auch mal ein Bühnenbild für die Staatsoper beisteuern – und den Festtagen ihre Sensation liefern? Auch dem Freundes- und Förderkreis des Hauses kann man derartiges Freundesgut bestens verkaufen: „Außergewöhnliches benötigt jedoch auch außergewöhnliches Engagement“, erkennt der Verein – und überweist 150 000 Euro privaten Extrazuschuss für den Gehry-Coup.
Im Progammheft ist plötzlich nur noch von einer "Kooperation" die Rede
Umso überraschender, dass im Programmheft nur noch außergewöhnlich bescheiden von einem Bühnenbild „in Kooperation mit Gehry Partners, LLP“ die Rede ist. Zu Besuch im Büro des Meisters in Los Angeles soll Intendant und Festtags-Regiedebütant Jürgen Flimm ein Modell ins Auge gefallen sein, das ihm in seiner ungezügelten Farbigkeit ideal für Glucks Elysium schien. Nach dem Bretterrest zu urteilen, der davon im Schiller- Theater angekommen ist, könnte es sich um Gehrys Entwurf des Museums für Biodiversität in Panama handeln. Auf einigen gefalteten Schuppen und kühnen Hexentreppen werden später die Heroen und Heroinen des Elysiums kurz und sehr vorsichtig Platz nehmen und ihre Sonnenbrillen richten. Danach verschwindet die Farbkaskade sang- und klanglos.
Der Raum darum herum ist so unverkennbar zusammengeklaut, dass eine direkte Nennung Gehrys als Bühnenbilder wahrscheinlich den Besuch seiner Anwälte zur Folge gehabt hätte. Eingangs lässt sich die Trauerhalle eines modernen Krematoriums ausmachen, durch die Orfeo seine tote Euridice auf einer Bahre selbst den Flammen entgegenschiebt. Dass man diesen funktionalen Todesschlitten auch als Folterbank benutzen kann, zeigt sich bei Orfeos Versuchen, die Furien mit seinem Gesang zu bändigen. Die finstere Schar mit ihren Ku-Klux-Klan-Kapuzen traktiert den festgezurrten Sänger mit Messern, einzelne Schergen prügeln ihn, bis das Kunstblut gerinnt.
Bejun Mehta beherrscht dieses Passionsspiel, als stecke er noch immer in Claus Guths szenischer Zurichtung von Händels „Messiah“ fest. Und er meistert die Partie des Orfeo so unangefochten, dass sämtliche Folterspiele an ihm abgleiten. Was bleibt, ist eine seltsame Spreizung zwischen der Musik und der ihr übergestülpten Bühnendrastik – genau das, was Gluck 1762 unbedingt überwinden wollte. Barenboim und Flimm spielen sein Werk in der kompakten Wiener-Urversion, aus der sie auch noch kürzen. Schließlich hat man beim Kollegen Dieter Dorn in Salzburg erlebt, wie blöd es aussehen kann, wenn Musik mit wackliger Choreografie aufgefüllt werden muss. Ernsthaften Bewegungen auf Glucks zarte Schöpfungen erteilt Flimm daher eine Absage – fragt sich nur, warum für schale Mätzchen oder stures Ausschreiten dennoch Tänzer gebucht werden müssen.
Anna Prohaska singt Euridice mit einer Unbedingtheit, vor der kein Mann bestehen kann
90 Minuten dauert dieser Festtags-„Orfeo“, der zumindest einen packenden szenischen Moment gebiert: Im Wiedersehen der Geliebten in einer Art Hotelzimmer lockt Flimm das geballte Misstrauen und die bodenlose Angst hervor, die Euridice durch das erzwungene Ausbleiben der körperlichen Vereinigung mit Orfeo durchlebt. Anna Prohaska interpretiert das furios mit einer Unbedingtheit, vor der kein Mann bestehen kann. Der von Nadine Sierra elegant gesungene Amor raucht eine Frustzigarette, Jupiter schaut als stiller Teilhaber zu wie ein im Sturm der Emotionen ergrauter Analytiker.
Und Barenboim? Dirigiert einen Gluck, der sich deutlich hinter den großen Verwerfungen und heißen Herzen bewegt, die im steifen Begriff „Reformoper“ stecken. Dabei entscheidet er sich bei Instrumentarium und Tempi konsequent für das, was auch gut klingt. Die Staatskapelle hat das zumeist im Griff, kann auch mit feinen Soli glänzen. Doch in den großen Chorszenen scheint auch eine gewisse Leblosigkeit auf, ein Schlingern wie nach plötzlichem Energieabfall.
Ein bisschen beschummelt müssen sich am frühen Ende alle fühlen – die, die Festtagsgold suchen und die, die Glucks mutige Abkehr vom alten Glamour verehren. Der ausgelassen feixende Auftritt von Jürgen Flimm beim überschaubaren Schlussapplaus plädiert eindeutig für: Nehmt’s mir altem Gaukler nicht krumm. Ob’s ankam? Der internationale Opern- Zirkel jedenfalls stand ratlos im Foyer beisammen. Ach ja: Die Aufführungen im Juni und Juli kosten nur noch einen Festtags-Bruchteil. Prohaska, Sierra und Barenboim sind dann nicht mehr dabei. Nur Bejun Mehta, der einsame Held in seiner Trauer, wacht. Was allein den Besuch wert ist.
wieder am 23. und 27. März, am 22. und 24. Juni sowie am 1. und 3. Juli