Mangas: Heller als tausend Sonnen
Die atomare Bedrohung ist in Japan seit langem präsent: Im Manga-Klassiker „Akira“ wird sie zum erlösenden Bilderrausch.
Es beginnt mit einer Motorradjagd. Tetsuo und Kaneda, zwei ungehobelte Halbstarke, liefern sich ein erbittertes Duell mit einer verfeindeten Bikergang in den neonblitzenden Straßen Neu-Tokios, da begegnen sie einem greisenhaften Kind, das die Nummer 26 eingraviert hat. Die Spur führt zu einem militärischen Geheimlabor. Darin wird als gefährlichstes Exemplar auch ein Junge mit der Nummer 28 in künstlichem Tiefschlaf gehalten. Sein Name ist Akira, und er wird befreit aus etwas, das ihn wie Reaktorgehäuse einschließt: platzende Rohrleitungen, emporschießender Dampf und eine glühende Druckkammer sind die ersten Vorzeichen einer unkalkulierbaren Macht.
Dass es ein Kind ist, ein niedlicher kleiner Bursche, der hier vor der Zumutung totaler Kontrolle bewahrt wird, macht die ambivalente Haltung der Japaner gegenüber dem eigenen technologischen Vorsprung nur umso schmerzhafter deutlich. Nichts ist so zerstörerisch wie die Unschuld der Jugend.
Man kann nicht behaupten, dass die Japaner nicht gewusst hätten, was auf sie zukommt. Sie haben es sich jedenfalls ausgemalt, lange bevor es jetzt Realität wurde: Es gibt Kräfte, die man nicht kontrollieren und eindämmen kann. Davon erzählen die Animationsfilme von Hayao Miyazaki („Ponyo“ und „Nausicaä aus dem Tal der Winde“) und der Kinomythos „Godzilla“, aber vor allem eins der populärsten Comic-Werke der Mangakultur, „Akira“ von Katsuhiro Otomo (auf Deutsch bei Carlsen, mehr dazu hier). Von 1982 bis 1990 arbeitete der Zeichner an der düsteren Untergangsvision, die mit all ihren Nebenhandlungen auf 120 Kapitel kommt. Es ist ein beklemmendes Märchen von Kindern mit übernatürlichen Energieressourcen, ein modernes Drama vom Zauberlehrling.
Entfesselte Magie
Katsuhiro Otomo hat beängstigend gegenwärtige Bilder für die Zerstörung Japans gefunden. Da durchdringt ein Licht wie radioaktive Strahlung alles Leben, die entfesselte Magie des Knaben Akira, die als psycho-kinetische Kernschmelze inszeniert wird, lässt die Erde aufbrechen wie bei einem Erdbeben, Hochhäuser stürzen ein und Menschen wirbeln haltlos durch eine apokalyptische Trümmerlandschaft. Die Explosion der Hiroshima-Bombe spielt als traumatisches Ereignis in dieses Fanal ebenso mit hinein wie die Tsunami-Angst. Wassermassen spülen durch die Straßenschluchten und reißen alles fort.
„Akira“ war, als das 2000-Seiten-Opus in den achtziger Jahren herauskam, nicht als Warnung gemeint. Es war ein Vergnügen am Bilderrausch. Otomo konnte nicht wissen, dass 2011 eine Flut viele Städte im Nordosten Japans dem Erdboden gleichmachen und ein Atomkraftwerk außer Kontrolle geraten lassen würde. Trotzdem ist die Katastrophe von Fukushima, von der wir im Moment nur einen Bruchteil begreifen können, nie so weit entfernt gewesen, als dass sie nicht in den turbulenten Science-Fiction-Welten eines Comic-Virtuosen wie Otomo hätte vorkommen können. „Akira“ war die logische Antwort auf eine Kultur der Internalisierung, ohne die das Inselland mit seinen begrenzten Ressourcen und dem übergroßen Ehrgeiz nicht im Stande gewesen wäre, binnen weniger Jahre zur wirtschaftlichen Weltmacht aufzusteigen. Deutschland, der andere Kriegsverlierer, hatte denselben Weg vor sich. Aber hier bezog man ab Mitte der sechziger Jahre nicht zuletzt auch Kraft aus der Aufarbeitung der historischen Schuld. Jede Debatte um die Verantwortung der Deutschen für den Holocaust und die Verheerungen des Zweiten Weltkriegs hat das Land auch ein Stück mit sich selbst ausgesöhnt.
Die Japaner wollen von den Kriegsverbrechen ihrer Besatzungsarmee in Südostasien bis heute wenig wissen. Während die Deutschen begriffen haben, dass auch eine Kulturnation Gaskammern erfinden kann, dass die Besinnung auf Beethoven, Goethe oder Kant nicht vor der Barbarei schützt, glauben viele Japaner noch immer an Pflicht und Treue, an die alten Werte. Alles Innerliche, Empfindsame, Sinnliche, das nicht die Muster der Selbstkontrolle durchlaufen hat, kommt ihnen ungebührlich und wie eine Bedrohung vor. Das Wort Risiko hat in diesem Zusammenhang einen anderen Klang. Vielleicht wird die zivilisatorische Apokalypse deshalb umso prächtiger ausgestaltet in Filmen wie „Nihon Chimbotsu“ von 1974, wo das ganze Land im Ozean versinkt, oder in Comics wie „Tokyo Magnitude 8“, das die Folgen eines starken Erdbebens durchspielt. Das Unglück als Schicksalsmoment ist eine Übung, dem Unabänderliche gewappnet entgegenzusehen.
Die Träume zerplatzen
Anders bei „Akira“. Dort ist schon NeuTokio aus Ruinen zur Skyline emporgewachsen, bevor es abermals – wir schreiben das Jahr 2030 – zu Ruinen zerfällt. Ein Atomschlag hat das alte Tokio vernichtet, man sieht den Krater. Nun überwölben wuchtige Betonpanzer den Erdboden, die radioaktive Kontamination ist offenbar schnell abgeklungen. Nur aus Akira und seinesgleichen hat sie post-nukleare Mutanten gemacht. Sie werden in einem Verlies gehalten, weil etwas Unberechenbares in ihnen fortwirkt, etwas, das niemand sich entfalten sehen will.
Otomo zeichnet Japan als hysterische Gesellschaft im Zerfallsstadium. Akira reagiert auf die Spannungen seiner Umwelt und verwandelt sie in eine alles verschlingende Kraftquelle. So wie Oskar Matzerath in der „Blechtrommel“ mit seinem Kindergeschrei Scheiben zerspringen lassen kann, zielt Akiras Gewalt auf die seelische Verstümmelung einer paranoiden Erwachsenenwelt. Von diesem Konflikt lebt die Mangakultur. Ihr Trick ist, dass sie ihn in die Traumgefilde entfesselter Fantasien verlegt. Den kugeläugigen Helden wird eine emotionale Freiheit und eine Kreativität zugestanden, die sich Japaner im Alltag nicht leisten.
Doch nun gibt es die Reaktorkatastrophe wirklich. Die Träume zerplatzen. Otomos Bilder waren nie wahrer. Aber ihr Rausch ist keine Erlösung mehr.
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