Stephen Collins' „Der gigantische Bart, der böse war“: Held wider Willen
„Der gigantische Bart, der böse war“ erzählt von der Angst vor dem Fremden und der Unordnung. Stephen Collins' kongenial illustrierte Erzählung regt zum Nachdenken an - und wurde für einen Max-und-Moritz-Preis nominiert.
Wer ist in diesem Comic eigentlich der Held? Dave, der Protagonist in Stephen Collins Graphic Novel oder doch eher der titelgebende „gigantische Bart“? Fest steht, dass der monströse Bart, der Dave eines Tages plötzlich wächst, der Grund dafür ist, dass er von heute auf morgen im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses steht und durch die spätere Musealisierung seiner Geschichte auch zu einem Helden wird. Dabei ist Dave gar kein heldenhafter Typ – im Gegenteil er wirkt eher ruhig und etwas schüchtern und er führt ein geradezu unspektakulär langweiliges Leben bis plötzlich dieser unaufhörlich wachsende Bart aus seinem Gesicht sprießt.
„Eternal Flame“ in der Endlosschleife
Aber der Reihe nach. Dave wohnt auf einer Insel namens Hier, die aus der Luft betrachtet eine perfekt ovale Form besitzt. Auch alles andere in Hier scheint perfekt zu sein. Die Menschen auf der Straße sind stets ordentlich gekleidet, alle Bürgersteige gefegt, alle Hecken gestutzt und nirgendwo hängt ein Gartentor schief in den Angeln. Hinter all dieser peniblen Ordnung steht jedoch eine große Angst. Die Angst nämlich vor einem Land namens Dort, das von Hier nur durch das Meer getrennt ist. Dort, so heißt es, herrsche das Chaos, dort lauere das Böse. Und ihrer Furcht vor dem unbekannten Bösen können die Bewohner von Hier nur durch das penible Einhalten von Ordnung Herr werden. Diese Welt entwirft Stephen Collins in schlichen schwarz-weißen Panels, deren Hintergründe nur sparsam ausgearbeitet sind und die auf der Seite oft in strenger Symmetrie um eine Mittelachse angeordnet sind.
Daves Tage bestehen aus seiner eintönigen Arbeit bei einer Firma, von der er nicht einmal weiß, was sie eigentlich genau tut. Sein täglicher Job im Büro ist es, Daten, die ihm per Mail zugesendet werden, in Diagramme zu verwandeln und diese dann bei einem Meeting zu präsentieren. Was die Zahlen und Daten aussagen, ist dabei völlig unwichtig. Was für Dave zählt, ist die Tatsache, dass sie jeden Tag vorliegen. Überhaupt ist Routine sehr wichtig für ihn. So gestalten sich auch seine Abend immer gleich. Er sitzt zu Hause am Fenster, hört „Eternal Flame“ von den Bangles in der Endlosschleife und zeichnet die Straße vor seiner Tür.
Ein raumgreifender Bart
Doch dann kommt der Tag, an dem nicht nur Daves Leben, sondern auch das aller Bewohner von Hier aus den Fugen gerät – und mit ihm die Ordnung auf den Comicseiten. Bild und Text ragen plötzlich über den Panelrand hinaus und die einzelnen Bilder scheinen aus ihrer gewohnten symmetrischen Ordnung herauszubrechen. Mitten in der täglichen Präsentation vor den Kollegen beginnt Dave plötzlich ein Bart zu wachsen. Und dieser Bart wächst unaufhörlich weiter und seine Haare scheinen immer widerspenstiger zu werden, je rigoroser Dave versucht, den Bart loszuwerden oder zumindest zu trimmen. Nach wenigen Tagen schon sprengt der Bart buchstäblich das Wohnzimmer seines Trägers und beginnt sich auf der Straße auszubreiten. Ganzseitige Panels dominieren nun das Layout, der Bart nimmt sich den Raum, den er benötigt.
War er zunächst nur ein Zeichen von Unordnung und damit für die Bewohner von Hier schon Furcht einflößend genug, wird er bald zu einer Bedrohung der öffentlichen Ordnung. Die komplette Stadt muss mit einer Gerüstkonstruktion versehen werden, auf der der gewaltige Bart ruhen kann, ohne Häuser und Straßen zu zerstören und sämtliche Frisöre des Landes werden zum Dienst am Bart verpflichtet. Sie versuchen die widerspenstigen Haarmassen wenigstens notdürftig in Form zu bringen und damit einigermaßen in Schach zu halten. Schließlich beschließt die Regierung, den Bart mit zwanzig riesigen Heißluftballons in der Schwebe zu halten, doch die Verankerungen am Boden lösen sich und Dave und der Bart entschweben über das Meer.
Zurück bleibt eine Gesellschaft, in die ein klein wenig Unordnung Einzug erhalten hat. Und schon bald kann sich niemand mehr daran erinnern, warum die Angst vor Dort einmal so groß war. Daves ehemaliges Haus wird zu einer Gedenkstätte mit Museum umgebaut und Dave selbst damit zu einem Helden. Zu einem Helden wider Willen, wenn man so will, denn dieser übermenschliche Bartwuchs wirkt eher wie ein Schicksal, in das Dave sich fügen muss. Vielleicht ist der wahre Held also doch der Bart selbst. Stephen Collins entlässt den Leser mit genügend Stoff zum Nachdenken: Was macht eigentlich einen Helden aus? Wie reagieren Gesellschaften auf Abweichungen vom Alltäglichen? Und täte ein klein wenig Chaos unserem eigenen Leben nicht manchmal auch gut?
Stephen Collins: Der gigantische Bart, der böse war, Atrium, 240 Seiten, 29,99 Euro
Hinweis: Das besprochene Buch ist einer der Nominierten für den Max-und-Moritz-Preis, der am 20. Juni auf dem Comic-Salon Erlangen verliehen wird - hier kann man über den Max-und-Moritz-Publikumspreis abstimmen.
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