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So zärtlich, so brutal. Heiner Pudelko bei einem Auftritt im Jahre 1982.
© picture alliance / Fryderyk Gabo

Erinnerung an Westberliner Sänger: Heiner Pudelko – eine Stimme wie brechendes Glas

Das mörderische Kreuzberg der Achtziger: eine Erinnerung an den extremen Sänger Heiner Pudelko, der am kommenden Sonnabend 70 geworden wäre – und an sein Milieu.

Im September 1985 fand die Polizei in einem besetzten Haus in der Kreuzberger Waldemarstraße das verschnürte Skelett eines Mädchens aus Schwaben, das dort sechs Jahre unbemerkt auf dem Dachboden gelegen hatte. In ihrer Reportage „Der unheimliche Ort Berlin“ ging die „Spiegel“-Journalistin Marie-Luise Scherer dem bis heute ungeklärten Todesfall nach und schrieb eine epochale Milieustudie, die alle Nostalgiker des bunt-alternativen Vorwende-West-Berlins das Fürchten lehren müsste. So führte die Reporterin die Unfähigkeit der Bewohner, die Leiche zu riechen, auf den Gestank von Müll und Fäkalien im Haus zurück, der stärker war als der Verwesungsgeruch.

Damals bestand Kreuzberg laut Marie-Luise Scherer aus drei Bevölkerungsgruppen: Normale, Nichtnormale und Türken, wobei die Nichtnormalen den Ton angaben. Sie hatten ganze Quartiere entlang der Mauer zu polizeilich aufgegebenen Gebieten für Aussteiger und Ausreißer, Kiffer und Fixer, Stricher und Mucker gemacht.

Die Glanzseite dieser Kreuzberger Schattenwelt war in den 1980er Jahren eine geniale Musikszene, die mit Senatsgeld gefördert wurde und in zwei Fraktionen zerfiel: die Punk-Amateure und die Profis der Neuen Deutsche Welle. Das Markenzeichen NDW war den Protagonisten zwar ein Gräuel, aber es stand immerhin für ihren Gruppenerfolg, den teutonischen Krautrock auf internationales Niveau gebracht zu haben.

Neben Nina Hagen, Spliff, Ideal, Ulla Meinecke und anderen war der mit Abstand außergewöhnlichste und begabteste Musiker der Sänger Heiner Pudelko. Er entwickelte mit dem Quintett Interzone seit 1979 einen harten, feinmotorischen Rhythm'n'Blues mit Elementen aus Soul, Reggae und Calypso, der nicht so schrottig wie die Rolling Stones, aber auch nicht so bombastisch wie AC/DC klang. Und weil Pudelko mit seinem markerschütternden Belcanto einen unerhörten Realismus entfaltete, erntete die Band schillernde Prädikate wie „Die ehrlichen Jungs aus der eingezäunten Stadt“.

Zynisch, brutal, aber fern öder Panikmache

Niemand weiß, ob Heiner Pudelko damals vom Skelettfund in der Waldemarstraße gehört hatte. Aber der Probenraum von Interzone lag im selben Kiez, über den Marie-Luise Scherer geschrieben hatte, dass „eine Leiche in der Waldemarstraße keinen lauteren Aufschrei verursachen würde als eine Maus in einem Keller in Wilmersdorf“. Auch bei Interzone ging es unsentimental zu, wenn Pudelko im Lied „Die Jungs von nebenan“ mit einem Stimmklang wie brechendes Glas sang: „Du entschuldige mein spätes Kommen, da hat sich grad einer das Leben genommen. Die Adern geöffnet, in der Wanne ausgestreckt, und hat uns dabei das ganze Bad verdreckt.“

Im selben Jahr, als der Produzent Bernd Eichinger 1981 mit der Verfilmung „Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ seinen ersten großen Erfolg feierte, schilderte Pudelkos „Kinderlied“ den Alltag eines Kindes drogensüchtiger Eltern im Rhythmus eines Abzählreims: „Da ist ein Loch in Papas Arm, da fließt die Kohle rein, und wenn das Loch verstopft mal ist, dann nimmt er das am Bein. Die Mama hat 'ne Naht, den ganzen Hals entlang, ist der Papa mal indisponiert, dann zittert seine Hand ...“

Zynisch, brutal und trotzdem fern von der öden Panikmache moderner Avantgarden richtete Pudelko seinen bösen Blick auf das, was jenseits des Schönen ins Schreckliche umkippt. Anfangs hatte die Band noch Texte von Wolf Wondratschek vertont, bis Pudelko eigene lyrische Kurzgeschichten schrieb, die raumzeitlich geschlossenen Filmszenen glichen. Wenn es in einem seiner Lieder regnete, wollten die Zuhörer ihre Regenschirme aufspannen. Es waren scharf konturierte Alltagsgeschichten aus dem beschädigten Leben, in dem der Traum von der großen Passion trotzdem weiterging.

Der 1948 in Oberschlesien geborene Pudelko wuchs als Kind von Spätaussiedlern im Westteil Berlins auf. Er sollte Industriekaufmann werden, entschied sich jedoch für die Musik und spielte in Beatgruppen. Dort war er der schüchterne, melancholische Junge mit der Mundharmonika, bis er 1979 mit seiner Idealformation Interzone zusammenfand, wobei der Name keine Kalte-Kriegs-Folklore war, sondern von der Albtraumstadt Interzone in W. S. Burroughs Roman „Naked Lunch“ stammte.

Trotz seines zurückhaltenden Auftretens sorgte Pudelkos Erscheinung für Aufsehen. Das streng zu einem Dutt zurückgekämmte blonde Haar, die hohen Wangenknochen und der durchdringende Blick gaben ihm bei aller Maskulinität etwas Hermaphroditisches und Hexenhaftes. Das steigerte sich durch seinen silbrig timbrierten Natterngesang ins Übernatürliche. „Weiß wie ein Engel, schön wie Schnee“, so beschrieb ihn der Musikerkollege Herwig Mitteregger.

Pudelko war der leibhaftige diabolus in musica

Pudelkos extrem trockene Artikulation scheuerte Worte wie mit Sandpapier, und mit spröde tremolierenden Silbenenden und seinem oberschlesisch-rollenden „R“ verdrehte er zuvor lockende Töne in abstoßende Drohgebärden. Und wenn er übergangslos von der Brust- in die Kopfstimme wechselte und sich im Falsett zu scheinbar endlosen Koloraturen aufschwang, machte er dort weiter, wo sich die stimmgewaltige Nina Hagen in kunstgewerblichen Kapriolen verlor.

Pudelko war der leibhafte diabolus in musica und beherrschte einen hymnischen Sirenengesang, der selbst in den höchsten Lagen nicht gebrüllt, sondern eher geflüstert war. Er besaß eine vulkanisch ausbrechende Stimmkraft, die andere Hard-Rock-Sänger zu schreienden Kastraten deklassierte. Zudem gelang ihm das fast Unmögliche: die archaische Vitalität der Rockmusik mit der Sehnsucht der Schlagermusik nach Schönheit zu verbinden. Das ozeanisch aufbrausende Weltumarmungslied „Aus Liebe“ von 1982 versetzt das Publikum noch heute in Freudentränen.

Durch gemeinsame Auftritte und Tourneen mit Spliff, Extrabreit und Ideal, alles gefördert vom Fotografen und Talentscout Jim Rakete, kamen Interzone und Pudelko dann zu überregionaler Anerkennung und Plattenverträgen. Bei der „SFB Rock Nacht Berlin“ hatten sie im Juni 1981 alle zusammen in der Waldbühne gespielt. Doch das gefährliche Leben in Kreuzberg holte auch die Interzone-Musiker ein, als der Bassist Kurt Herkenberg 1983 mit eingeschlagenem Schädel tot auf einem Gehweg gefunden und der Gitarrist Leo Lehr 1988 von einem LKW überfahren wurde.

Heiner Pudelko produzierte später Soloalben mit größerer instrumentaler und kompositorischer Breite. Doch der Mann, über den Ulla Meinecke sagte, er sei „zäh wie Unkraut im Beton“, erkrankte an Krebs und starb 1995 mit 46 Jahren. Das Nachwende-Berlin mag um vieles lebenswerter sein als in den unheimlichen Jahren um 1980, aber einen Musiker wie Pudelko, der an diesem Samstag 70 Jahre alt geworden wäre, hat die Stadt nicht wieder hervorgebracht.

Michael Mönninger

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