Josef Bierbichlers „Zwei Herren im Anzug“: Heimat und Abgrund
Josef Bierbichler hat seinen eigenen Roman verfilmt: Das bayrische Familienepos „Zwei Herren im Anzug“ erzählt von den Umbrüchen des 20. Jahrhunderts.
Zwei Männer, ein etwa Siebzigjähriger und ein Mittdreißiger, hocken einander gegenüber in einem braun getäfelten Wirtshaussaal. Trinken Bier auf Bier und auch Schnaps. Draußen der Wirtsgarten und der oberbayrische See, hier drinnen nur diese beiden, Vater und Sohn.
Ein halbes und ein ganzes Leben lang hatten die zwei sich nie was zu sagen. Oder nur das Falsche. Der alte Seewirt Pankraz wollte als Junge mal Opernsänger werden, in München und in der weiteren Welt. Aber sein älterer Bruder wurde im Ersten Weltkrieg versehrt und so verrückt, dass er irgendwann in der Dorfkirche nebenan dem Herrgott an der Wand den Kopf wegschoss. Das ist, in einer schwarz-weißen Erinnerungsrückblende, ein großer Moment in Josef Bierbichlers Film, in dem er als Hauptdarsteller erstmals auch Regie führt und das Buch geschrieben hat. Bierbichler alias Pankraz, der einst vom Vater gepresst wurde: Er musste den Hof und die Bauernwirtschaft übernehmen, anstelle des Bruders. Schon damals ist in der Pankraz-Familie viel schiefgegangen, mit Glaube, Liebe, Lebenshoffnung.
Davon erzählt der Alte jetzt seinem Sohn namens Semi im leeren Gastsaal, wo es oft hoch und oft auch mal dumpf herging. Fasching in den fünfziger Jahren im Afrikanerkostüm oder mit Hitlerbärtchen und Hakenkreuzgaudi. Eben aber, wir sind im Jahr 1984, ist die Frau vom Pankraz gestorben, Semis Mutter, und das Begräbnis und der Leichenschmaus sind vorbei, die anderen Gäste gegangen. Frau und Mutter tot, da ist nach viel stummem Brüten die Zeit der Besinnung gekommen für Vater und Sohn. Denn auch Semi fühlte sich, außer von der mitfühlend mitleidenden Mutter, nie verstanden. Er wurde früh ins katholische Internat zum „Heiligen Blut“ geschickt, wo ihn ein Priester missbrauchte. Jetzt trägt er einen Bart, ist für den Vater ein gottloser Kommunist, dank ’68. Einmal wird’s dem Semi, den Bierbichlers leibhaftiger Sohn (und Wirt in München) Simon Donatz mit ganz wunderbar dunkel-melancholischem Blick spielt, in der braungrauen Welt des Vaters zu bunt, und er schüttet ihm eine Halbe über den Kopf.
Zwei ältere Herren als Gespenster des Holocausts
Pankraz aber ist nach dem Tod seiner Frau (elegisch und zugleich vital bayrisch: Martina Gedeck) seiner selbst so überdrüssig, dass er nicht mehr zurückschlägt. Er schaut nur mit jener sonderbar entgeisterten Geistesgegenwärtigkeit, die dem wie immer monumental zarten, fabelhaft präsenten Josef (Sepp) Bierbichler eigen ist. Schaut und sieht mit unendlicher Schwermut auf sein ihm schon viel zu langes, abgelebtes Leben.
„Mein Kopf ist ein leerer Tanzsaal, einige verwelkte Rosen und zerknitterte Bänder auf dem Boden, geborstene Violinen in der Ecke, die letzten Tänzer haben die Masken abgenommen und sehen mit todmüden Augen einander an.“ Das stammt aus Georg Büchners „Leonce und Lena“, doch es könnte ein poetisches Zitat dieses in der Machart eher altmeisterlich konventionellen Kinofilms sein.
„Zwei Herren im Anzug“ heißt das drei Generationen umspannende Epos, das bis auf wenige kurze Szenen nur in und um die pankrazische Wirtschaft mit Gehöft und Wiesen spielt. Dort, wo sich der Bierwirtschaftserbe Sepp Bierbichler aus Ambach am Starnberger See sehr gut auskennt. Mit den Titelfiguren sind freilich nicht die beiden Hauptdarsteller im leeren Saal gemeint. Es sind vielmehr zwei fremde Gäste draußen im Garten, die später in Hut und Anzug auch baden gehen. Zwei ältere Herren als Gespenster der nicht nur bayrischen Geschichte, vielmehr: des Holocausts.
Spannung zwischen Pathos, Groteske und Komik
Ohne hier weitere Details zu diesem am Ende auch überraschenden Auftritt zu verraten: Die beiden Wiedergänger sind gewollt, aber sie wirken leider auch so. Was in Sepp Bierbichlers Roman „Mittelreich“, der 2011 erschienen ist und die Vorlage zum Film gibt, ungemein vielschichtig erscheint und sprachlich vom Dialektalen bis zu Kleist-ähnlichen Satzkaskaden ausgreift, das ist in (immerhin) fast drei Filmstunden naturgemäß verkürzt. Aber kunstgemäß hätte dieses literarische Sittengemälde zum deutschen Katholizismus, Nazismus und ab den Fünfzigern wirtschaftswunderlichen Konsumismus durchaus in eigene Bilder übersetzt werden können. Es gibt ja doch Heimatfilme, die ihrerseits zu abgründigen, schmerzlichen Weltbildern werden.
Hier hat es nur zu Abbildern in einer stoischen, zwischen Vater- und Sohnesperspektive wechselnden Rückblende-Erzählung gereicht. Wohl auch ohne die finanziellen Mittel, Visionen wie einen aus dem Realistischen ins Fantastische gesteigerten Wintersturm, den Pankraz seinerseits mit Wagner-Gesängen besänftigt, visuell stärker zu fassen. Das gilt ebenso für die eingestreute Holocaust-Erinnerung, mit einem (für Kenner) makaberen Tabori-Zitat. Darin steckt etwas von Betonung, die der Film, sonst ohne jede Gefühlsmusik, gar nicht braucht. Die Spannung aber zwischen Pathos, Groteske und Komik, die Bierbichlers Spielen und Schreiben prägt, blitzt noch in einzelnen Szenen auf – auch einmal mit dem Satz: „Ich war nie ein Nazi. Doch kein Nazi war ich nie.“
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