Kultur: Heilige Kreise
Der britische Konzeptkünstler Richard Long im Hamburger Bahnhof
Wenn die Ausstellung zu Ende gegangen sein wird, muss die Arbeit an der hinteren Wand der historischen Halle des Hamburger Bahnhofs verschwinden. Sie wird einfach abgekratzt. Es gibt ein Zertifikat des Künstlers über die Ausführung; das ist alles, was bleibt. Richard Long hat einen großen Kreis aus Schlamm gemalt, mit sehr eleganten, diagonal gegenläufigen Strichen; ein Motiv, das er bereits häufiger ausgeführt hat, stets mit Schlamm aus dem Avon, dem Fluss seiner Heimat.
Andere Arbeiten vermögen zumindest in Rohfassung zu überdauern. Das sind die Steinkreise, die nach schriftlicher Anweisung immer wieder neu ausgelegt werden können. In der Sammlung Marx befindet sich der große „Berlin Circle“ aus zweiseitig geschliffenem Stein, was ihm das Aussehen wild durcheinander treibender Eisschollen verleiht. Ein kleinerer Kreis aus dem Besitz der Nationalgalerie, bereits 1977 konzipiert, besteht aus zackig gebrochenem Sandstein. Wieder andere Kreise sind sogar aus Torfstücken ausgelegt.
Das Wort „konzipiert“ weist darauf hin, dass Richard Long, geboren 1945 im südwestenglischen Bristol, der Konzeptkunst zugerechnet wird. Nicht die Ausführung, schon gar nicht eine „Geste“, sondern der Gedanke, das Konzept machen den Gehalt dieser Kunst aus. Die Ausführung kann an wechselnden Orten erfolgen, von wechselnden Helfern ausgeführt. Das Konzept gilt es zur Erscheinung zu bringen. „Das Auge ist der erste Kreis“, wird der amerikanische Philosoph des 19. Jahrhunderts, Ralph Waldo Emerson, an der Seitenwand der großen Ausstellungshalle aus dem Jahr 1841 zitiert: „Der Horizont, den es formt, ist der zweite; und in der ganzen Natur wird dieses ursprüngliche Bild ohne Ende wiederholt.“
In der Tat haben Longs Steinkreise etwas Archaisches. Liegt nicht auch der steinzeitliche Kreis von Stonehenge im Süden Englands, gar nicht so weit von Bristol entfernt? Es wäre indessen ganz falsch, Long in irgendeine Verwandtschaft zu rituellen oder mystischen Vorstellungen rücken zu wollen. Es ist allein die sinnliche Kraft der Steine, der Hölzer, der beiläufig gefundenen Materialien, die Longs Arbeiten so prägnant machen. „Meine Steine sind wie Sandkörner in der Landschaft“, hat er immer wieder betont, um die Größe und nicht zuletzt die Erhabenheit, die seine Arbeiten im musealen Umfeld auszeichnen, zurechtzurücken. Begonnen hat Long, und das ist zu der Berliner Ausstellung hinzuzudenken, mit seinen berühmten Wanderungen, zuallererst mit der „Linie, durch Laufen geschaffen“ von 1967, einer breitgetrampelten Fußspur in englischer Wiese, der Nachwelt überliefert allein durch die Fotografie und die Aufzeichnungen, die Long seither von allen, im Laufe der Jahre immer kühneren und ausgreifenderen Wanderungen erstellt. Die Steinkreise machen die andere Hälfte seines Werkes aus. Aber für beide Aspekte gilt, was Long 1982 gesagt hat: „Die Quelle meiner Arbeit ist die Natur. Ich nutze sie mit Respekt und Freiheit. Ich mag den Gedanken, die Erde zu nutzen, ohne sie zu besitzen.“
Ein wenig Besitz ist mit den Kreisen schon verbunden, auch wenn es sich nur um achtlos herumliegende Steine oder angespültes Knüppelholz handelt. Darin berührt sich Longs Werk mit der arte povera. Kunst kann aus sehr wenig, vor allem wertmäßig wenig entstehen. Sie öffnet dessen ungeachtet die Augen für die Schönheit der Natur, die noch ihren geringsten Stoffen innewohnt. Richard Long lässt uns teilhaben an einer Schönheit, die in der industrialisierten Welt aus dem Gesichtskreis entschwunden und verbannt worden ist. Darin könnte man ihn einen Romantiker nennen; einen Romantiker freilich, der ohne Pathos daherkommt und dem das einsame, schweigsame Wandern auf unbetretenen Wegen genügt. Welches Glück, dass wenigstens die Kreise ins Museum finden, die von der Harmonie einer ursprünglichen Natur erzählen, wenn man ihnen lauscht.
Hamburger Bahnhof, Invalidenstr. 50, bis 31. Juli; Di-Fr 10-18 Uhr, Sa 11-18 Uhr, So 11-20 Uhr. Ein Katalog erscheint Ende April.
Bernhard Schulz
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