200. Todestag: Haydn war Hymnendichter und Handwerksmeister
Eine Sprache für die ganze Welt: Zum 200. Todestag des Komponisten Joseph Haydn. Der Reiz seiner Musik liegt im raffinierten Detail. Das macht seine Werke für ein Publikum des 21. Jahrhunderts dann doch schwer zugänglich.
Graf Sarau zeigte sich in höchstem Grade alarmiert: Französische Truppen überrannten Europa mit einem furchterregenden Lied auf den Lippen. Im Herbst 1796 marodieren Napoleons Truppen bereits in Italien. Dieser Marseillaise, diesem Demokratengegröle, dachte sich der hochwohlgeborene Wiener Stadthauptmann, muss dringend etwas entgegengesetzt werden. Also bestellte er eine patriotische Hymne beim berühmtesten Komponisten seiner Zeit: Joseph Haydn. Zum Geburtstag des Kaisers am 12. Februar soll Österreich die neue Melodie erstmals gemeinsam singen. Haydn möge sich allerdings, bitte sehr, eher ein Vorbild am getragenen Pathos des englischen national anthem nehmen als an der linksrheinischen Feuerköpfigkeit.
Und der 64-Jährige, der es gewohnt ist, im Auftrag zu komponieren, liefert pünktlich das Gewünschte: eine gleichermaßen festliche wie eingängige Tonfolge, die nicht nur ihrem Erfinder selber so gut gefällt, dass er sie bis an sein Lebensende zur Beruhigung von Seele und Geist regelmäßig auf dem Klavier zu intonieren pflegt, sondern die sich bald auch über die Staatsgrenzen hinaus enormer Beliebtheit erfreut. Als Hoffmann von Fallersleben 1841 sein „Lied der Deutschen“ dichtet, hat er dabei Haydns Hymne im Kopf. 1922 gelingt es der jungen Weimarer Republik, den Österreichern ihre Nationalmelodie abzuluchsen.
Haydns Popularität allerdings hat diese Vereinnahmung wenig genützt. Wenn die Welt am heutigen 31. Mai seines 200. Todestages gedenkt, dann feiert sie einen berühmten Unbekannten. Im Bewusstsein der Musikhörer von heute nämlich existiert ein höchst diffuses Bild dieses Komponisten: Begründer der Wiener Klassik, ja, Pionier der Gattungen Sinfonie, Sonate und Streichquartett, sicher, aber eben auch naive Seele und routinierter Vielschreiber, fleißiger Verfasser von 104 Sinfonien, die Dirigenten gerne zum Warmspielen an den Anfang eines Konzertabends setzen. Am liebsten jene mit großen Knalleffekten, denen die Nachwelt Namensetiketten aufgeklebt hat. Da gibt es die Abschiedssinfonie, bei der nach und nach die Spieler von der Bühne abgehen, da wartet man auf „den Paukenschlag“ oder den „Paukenwirbel“, da ist die Kunstmusik mit Alltagsgeräuschen aufgeladen, es gackert „das Huhn“, es tapst „der Bär“, es tickt „die Uhr“.
Der eigentliche Reiz von Joseph Haydns Musik aber liegt ganz woanders: im raffinierten Detail. Das macht seine Werke für ein Publikum des 21. Jahrhunderts dann doch schwer zugänglich. Denn die große Kunst, die dieser Musik innewohnt, liegt jenseits des Oberflächenreizes. Haydns Zeitgenossen, gewohnt an die aus dem Formelbaukasten zusammengeschusterte Dutzendware der Kleinmeister, bemerkten sofort, wo der gewitzte Joseph mal wieder die Erwartungshaltung aushebelte, wo er mit gewagten Wendungen und kleinen Provokationen überraschte. 1797 leiht sich der Komponist seine Kaiserhymne für das Streichquartett Opus 76 aus, für den zweiten Satz, den er als Variationenfolge angelegt: Weil aber so ein Herrscher nun einmal unantastbar ist, entschied er sich, auch die Melodie unangetastet zu lassen, statt sie wie üblich über einem gleichbleibenden harmonischen Fundament in mannigfaltigsten Veränderungen zu präsentieren. Nein, die Instrumente intonieren nacheinander vier Mal das originale „Gott erhalte Franz, den Kaiser“, variiert werden nur die Begleitstimmen. Ein Regelverstoß mit Hintersinn.
Joseph Haydn ist der letzte der großen Komponisten, die ihre Arbeit als Handwerk begreifen. Mit seinem berühmtesten Schüler Ludwig van Beethoven beginnt das Zeitalter der Originalgenies, der Ausnahmeindividuen, der Titanen, die unverwechselbare, einzigartige Kunstobjekte schaffen. Haydn dagegen sieht sich als Tonsetzer, der aus dem gegebenen Material exquisite Gebrauchsgegenstände schafft, ähnlich wie ein Goldschmied oder Stuckateur. Und dieses Handwerk hat durchaus goldenen Boden: Verleger aus ganz Europa reißen sich darum, Haydens Partituren herausbringen zu dürfen.
Als zweites von 12 Kindern wird Joseph Haydn 1732 in eine Wagenmacherfamilie hineingeboren. Er wächst im ländlichen Niederösterreich auf, in dem Dorf Rohrau an der ungarischen Grenze. Als der Knabe musikalische Begabung zeigt, wird er nach Wien geschickt, um sich als Chorknabe im Stephansdom seinen Lebensunterhalt selber zu verdienen. Da ist er gerade acht Jahre alt. Mühevoll schlägt er sich nach dem Stimmbruch als Lehrer und Privatsekretär durch, bis er 1757 eine Anstellung bei einem Adligen ergattern kann. Vier Jahre später wechselt er an die Hofkapelle des Fürsten Esterhazy. Fast 30 Jahre wird er im Dienst des kunstsinnigen Geschlechts bleiben.
Die Esterhazys besitzen ein Barockschloss in dem verschlafenen Kaff Eisenstadt südöstlich von Wien, später kommt ein isoliert liegender Sommersitz am Neusiedlersee hinzu. „Ich war von der Welt abgesondert, niemand in meiner Nähe konnte mich an mir selbst irre machen – und so musste ich original werden“, lautet das zweiberühmteste Zitat Haydns. Das berühmteste geht so: „Meine Sprache versteht man durch die ganze Welt.“
Beides möchte man aus der Sicht des Jahres 2009 infrage stellen. Denn erstens hätte der neugierige, vor Ideen nur so sprühende Haydn sich zweifellos auch in einer Großstadt zu einem Meister seines Fachs entwickelt – 1791, als nach dem Tod seines Fürsten Nikolaus die Hofkapelle aufgelöst wird, folgt Haydn einer Einladung nach London und komponiert dort einige seiner geistreichsten Sinfonien. Und zweitens versteht man sein 1200 Werke umfassendes OEuvre heute eben doch nicht mehr ohne Weiteres. Es ist Musik für Mitdenker geworden, für Menschen, die bereit und in der Lage sind, sich in die Hörgewohnheiten der Entstehungszeit zurückzuversetzen.
So wie er das Hofzeremoniell akzeptiert, die Abhängigkeit von einem fürstlichen Geldgeber, dem er „allzeit in sauberer Uniform“, wie es sein Vertrag ausdrücklich festhält, zu Diensten sein muss, so verfährt er auch beim Komponieren. Haydn ist kein Revolutionär, er denkt stets systemimmanent, entwickelt die konventionellen Formen weiter, greift auf, was in der Luft liegt, fasst zusammen, experimentiert in seiner Kompositionswerkstatt im Kleinen, schöpft die Freiheiten aus, die innerhalb eines vorgegebenen Rahmens möglich sind.
Die Herausforderung besteht für die Interpreten also darin, die feinen Unterschiede spürbar zu machen, die Haydns Stücke vom Mainstream seiner Zeit unterschieden. Weil aber all die mittelmäßigen Sinfonien und Konzerte, die Divertissements und Serenaden, an deren Unzulänglichkeit sich Haydns Humor einst entzündete, längst gnädig vergessen sind, fehlt der Kontext. Darum flüchten sich viele Musiker ins Überbetonen, um Haydn verständlich zu machen, schärfen die Kanten zu sehr an, lassen Pointen zu Gags werden und Zwei- zu Eindeutigkeiten. Oder, noch schlimmer, schleifen die feinen Widerhaken einfach durch pastellfarbenen Wohlklang ab.
Mozart berührt unmittelbar, Beethoven überwältigt – Joseph Haydn aber bleibt, das ist in den aktuellen Jubelfeierlichkeiten unüberhörbar, auch künftig ein Komponist für Kenner und Liebhaber. Die deutsche Nationalhymne mal ausgenommen.
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