Nachruf auf den Filmemacher: Harun Farocki - Bilder, die die Welt zerlegen
Harun Farocki war ein Ethnograf der kapitalistischen Verhältnisse - ein Nachruf auf den einzigartigen Berliner Filmemacher, Drehbuchautor und Medienkünstler.
Einen revolutionären Moment lang sah es 1968 auch in West-Berlin so aus, als könnte eine studentische Avantgarde das ganze Land im Handstreich nehmen. Durch die bundesrepublikanischen Universitäten ging ein militantes Grollen, und auch an der Deutschen Film- und Fernsehakademie, die einige Studenten besetzt und in Dziga-Vertov-Akademie umbenannt hatten, rumorte es. Guerilla-Fantasien machten die Runde, Resolutionen erklangen im Chor, und das Kino wurde zum Propaganda-Instrument erkoren. Der sommerlich erhitzten Aktion folgte im Herbst das kühle Ende: 18 Studenten, unter ihnen Gerd Conradt und sein Freund Hartmut Bitomsky, mussten nach einem Go-in in das Büro des Akademiedirektors die Hochschule für immer verlassen.
Zu den Aufständischen in dieser allerersten Klasse der Filmhochschule gehörte auch der 24-jährige Harun Farocki. Als Sohn einer Deutschen und eines indischen Arztes, Abdul Qudus Faroqui, war er am 9. Januar 1944 im sudetendeutschen Neutitschein, dem heute tschechischen Nový Jicín, geboren worden, wohin die Mutter evakuiert worden war, weil es in Berlin Bomben regnete. Nach dem Krieg wuchs er erst in Indien und ab 1949 in Indonesien auf. Dort ging er zunächst in Sukabumi, später in Jakarta, mit seiner Schwester Suraiya zur Schule, die Unterrichtssprache war Niederländisch. 1958, nach einem Umweg über Bad Godesberg, eröffnete der Vater eine chirurgische Praxis in Hamburg, die der Familie ein gutes Leben ermöglichte. Doch der junge Farocki rebellierte aus vielen Gründen zusehends gegen den alten. 1962 verabschiedete er sich für immer nach West-Berlin, wo er sich als Beatnik irgendwie durchschlug, auf dem Abendgymnasium sein Abitur nachholte und 1966 seinen ersten Dreiminüter für den SFB drehte.
Maoist, Dadaist, Situationist, Didaktiker, Konstruktivist, Dekonstruktivist
Der exkommunizierte Rebell erweckte nicht den Eindruck, als wolle er mit Politik nichts mehr zu tun haben, auch nicht um eines auskömmlicheren Lebens willen: Immerhin war er 1968 Vater von Zwillingsmädchen geworden. Farockis frühe Filme atmeten einen unversöhnlichen Agitationsgeist, den er über die Jahre immer feiner dosierte, zum Vorteil eines Blicks, der das „Leben – BRD“ (1990), wie einer seiner bekanntesten Filme heißt, bis in die letzte Machtverästelung analysierte.
Farocki war vieles und vor allem vieles gleichzeitig: Maoist, Dadaist, Situationist, Didaktiker, Konstruktivist und Dekonstruktivist – und dabei als Filmemacher weder jemals ein ordentlicher Dokumentarist noch ein glücklich in der Fiktion angelangter Spielfilmregisseur. Er hatte seine besonderen Stärken als akribisch beobachtender Essayist, und von der zeitweiligen Liebäugelei mit der chinesischen Variante des Sozialismus über eine eigenwillig kalte Poesie bis zu den theoretischen Klimmzügen gab er so etwas den deutschen Jean-Luc Godard, nur sehr viel weniger erratisch und sprunghaft, sondern mit einem Höchstmaß an assoziativer Schlüssigkeit.
„Man muss alles verbinden“, erklärt Robert, der Protagonist seines Spielfilms „Etwas wird sichtbar“ (1981), einer Reflexion über Liebe und Krieg in der Spannung von Mauerberlin und Vietcong-Dschungel. Und seine Freundin Anna sagt: „Wie unerlaubt das aussieht, ein Bild von uns zwischen den Bildern vom Krieg.“ Farockis Montagekunst zeigte, warum es dennoch geht.
Harun Farocki studierte mit Holger Meins (RAF) und Wolfgang Petersen (Hollywood)
Auf einem Foto von 1968 hockt er in einer Gruppe von Dziga-Vertov-Kommilitonen, mit jenem Anflug intellektueller Distanziertheit, der viele Aufnahmen von ihm auszeichnet. Das Aufregende ist die bunte Truppe um ihn herum. Einer, Wolfgang Petersen, drehte dann Filme in Hollywood. Ein anderer, Holger Meins, lebt nicht mehr, weil er sich als RAF-Häftling zu Tode hungerte. Petersen und Meins: Das waren die Extreme, die Farockis Generation hervorbrachte. In ihm fanden sie zwar nicht zur Synthese. Aber sie kämpften in ihm auf ihre Weise: mit einem durchaus vorhandenen Sinn für populäre Kinoformen und einer nie erloschenen Leidenschaft für radikale politische Veränderung, die sich nur von eindeutigen Stellungnahmen entfernt hatte.
Als Ulrich Kriest und Rolf Aurich 1998 „Der Ärger mit den Bildern“ herausgaben, die erste Monografie zu Farocki, mussten sie gestehen, dass die Publikation wohl zehn Jahre zu spät komme. „Am Ende der achtziger Jahre“, schrieben sie, „fügte sich einiges zusammen, was zunächst dem Film ,Bilder der Welt und Inschrift des Krieges‘ galt: Ein profundes medien- und wahrnehmungstheoretisches Interesse führte zu der in Deutschland seltenen Situation, dass ein Film über seinen Kinoeinsatz hinaus diskursive Wirkung erzielte.“ Der 1988 gedrehte Film über die Frage, warum Auschwitz nicht von den Alliierten bombardiert wurde, setzt Farockis Grundanliegen fort, wie es schon „Etwas wird sichtbar“ formulierte: „Die Philosophie fragt: Was ist der Mensch? Ich frage: Was ist ein Bild? In unserer Kultur haben die Bilder zu wenig Bedeutung. Die Bilder werden in Dienst genommen. Man befragt die Bilder, um Informationen zu erlangen, und nur die Informationen, die man in Worten und Zahlen ausdrücken kann.“
Es ging ihm um Mechanismen gesellschaftlicher Selbstzurichtung
Die Verspätung, derer die Herausgeber sich bezichtigen, hat Farockis internationales Renommee nicht aufhalten können – weder in den Filmabteilungen amerikanischer Universitäten, an die Farocki eingeladen wurde, noch bei Kollegen. Das von Kriest und Aurich empfundene Ungenügen stand aber schon damals für Farockis schleichenden Abschied von den künstlerischen Kontexten des Kinos als Umschlagplatz seiner Arbeiten, hinein in die Zusammenhänge von Medien- und Videokunst, wo sich der intellektuelle Diskurs über den kulturellen Wert von Bildern offenbar besser aufrechterhalten ließ. Der Preis dieser Verlagerung war die buchstäbliche Musealisierung seiner Filme. Mehr und mehr waren sie in Kunsthäusern und Galerien zu sehen, 2007 auch auf der Documenta – und gelegentlich im Fernsehen, das auch als Auftraggeber fungierte. Denkwürdig seine Reihe über das Training von Managern, das 1987 in „Die Schulung“ leitende Angestellte dabei beobachtete, wie sie sich besser zu verkaufen lernen sollten, und 1994 in „Die Umschulung“ werdende Verkäufer in ihren Ritualen dokumentierte.
Die Vielfalt seiner Arbeiten war erstaunlich. Ob er mit Vilém Flusser ein Gespräch über „Bild“-Schlagzeilen führte, die Karriere des Schauspielers Peter Lorre rekonstruierte, bei einer „Playboy“-Fotosession zusah, den Ausdruck von Händen erforschte, in „Videogramme einer Revolution“ (1992) Nicolae Ceausescus Sturz nachspürte, der Arbeit von Werbeagenturen auf den Grund ging oder die Überwachung im öffentlichen Raum untersuchte: Er ging ihm um Mechanismen gesellschaftlicher Selbstzurichtung, und nirgends war er unbarmherziger denn als Ethnograf kapitalistischer Lebenswelten.
Mit Christian Petzold arbeitete Harun Farocki über Jahre zusammen
So sehr er in eine Reihe mit Essay-Regisseuren wie Chris Marker, Johan van der Keuken und Alexander Kluge gehört, so wenig konnte er Schule machen. In Christian Petzold, mit dem er über Jahre zusammenarbeitete, fand er einen Erzähler, der von ihm eine spezifische Form der Rhythmusgebung lernte. Auch Petzolds demnächst startender Film „Phönix“ ist unter Farockis Beteiligung entstanden.
Anderen blieb nur die ehrfürchtige Imitation. So hat die New Yorker Filmemacherin Jill Godmilow mit „What Farocki taught“ ein einstellungsidentisches Remake von „Nicht löschbares Feuer“ (1968) gedreht, einem Film über die Napalm-Herstellung der Dow-Chemiewerke für den Vietnamkrieg. Der berühmte Anfang zeigt den Filmemacher dabei, wie er die Aussage eines Vietnamesen über die Methoden der US-Armee im Vietnamkrieg verliest und dann eine brennende Zigarette auf seinem Handrücken ausdrückt, um einen Eindruck von den Folgen einer achtmal so heißen Napalm-Verbrennung zu geben.
Farocki war auch ein glänzender Autor. Ein gutes Jahrzehnt lang, von 1972 bis 1984, war er Redakteur und Autor der legendären „Filmkritik“ und übte sich mit seinen Kollegen in einer Art des offenen Schreibens, die bis in die Feuilletons einsickerte. Seinen Scharfsinn wusste er auf Fußball wie auf Kinder, Krimis und Frauen anzuwenden – und schlug auch da Brücken zwischen Ufern, die kein anderer sah.
Einen seiner letzten Filme, „Sauerbruch Hutton Architekten“, eine Studie über Modellbildung beim Bauen, stellte er erst im vergangen November auf der Duisburger Filmwoche vor. Sie zeigt noch einmal seine ganze Faszination für die Konstruktion von Lösungen – gewissermaßen ein Selbstporträt auf verwandtem Felde. Am Mittwoch ist Harun Farocki im Alter von 70 Jahren in der Nähe von Berlin gestorben.
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