Per Leos Roman "Flut und Boden": Gutes Haus, schiefe Bahn, SS-Karriere
Familiengeschichte und philosophischer Essay: Per Leos bestechend kluger Roman „Flut und Boden“.
Es gibt zwei Schlüsselszenen in diesem an bemerkenswerten und Erkenntnis stiftenden Passagen, Gedanken und Ideen ohnehin reichen Buch. Die erste: Da begibt sich ein junger, von Selbstzweifeln, Versagensängsten und vielem anderen geplagter Student der Geschichte in die Hände des psychosozialen Notdienstes des Studentenwerks Freiburg. Dort sitzt eine Frau in ihrem Zimmer mit Blick auf den von Grünpflanzen überwucherten Lichthof und tritt ihrem Patienten bestenfalls mit Desinteresse entgegen, schon an der Grenze zur Unverschämtheit. Erst beim zweiten Besuch, eine Woche später, erzählt der junge Mann von seinem Großvater; er erzählt die Geschichte so, wie sein Gegenüber sie hören will, wie wir alle sie hören wollen, „mein Großvater war ein lupenreiner Nazi gewesen. Gutes Haus, schiefe Bahn, SS-Karriere“, und die Erzählung sorgt für eine sofortige Umkehr der Verhältnisse. Fast hat der junge Mann den Eindruck, als sei die Therapeutin ihm nun plötzlich dankbar, weil er etwas geliefert hat, das in die gängigen Muster und Sprechweisen hineinpasst.
Die zweite Schlüsselszene: Ein Jahr später kommt der junge Mann in Ulrich Herberts Holocaust-Hauptseminar. Herbert, einer der bedeutendsten Forscher auf diesem Gebiet weltweit, fragt nicht nach Gefühlslagen; er fragt nach Fakten, Zahlen, Daten. Und der junge Mann, er heißt Per Leo, stellt fest: „Herbert reformierte unser kirchentagsmäßiges Bild vom Holocaust, indem er ihn von einer monströsen, aber letztendlich einfachen Tatsache („Hitler lässt die Juden jagen und umbringen“), die eine Schlüsselstellung in unserem Gefühlshaushalt eingenommen hatte, zu einem hochkomplexen, nur mit größtem Fleiß und geistiger Anstrengung rekonstruierbaren Prozess machte.“
Per Leos Roman „Flut und Boden“ (der Titel ist nicht so gesucht und effekthascherisch, wie er zunächst erscheint) ist das Produkt dieser geistigen Anstrengung. Das merkt man dem Buch deutlich an, ohne ihm im geringsten zu schaden, im Gegenteil: Per Leo ist mit seinem Roman, der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde, eine Variante des Familienromans gelungen, wie man sie noch nicht gelesen hat – eine Familiengeschichte als geschichtsphilosophischer Essay, die den kühlen Blick ebenso in sich trägt wie den Mut zur Schärfe, auch in eigener Sache.
"Flut und Boden" ist geprägt von unorthodoxen Denkbewegungen
Es mag ein Trick sein, dass „Flut und Boden“ anhebt mit genau jenem abgegriffenen Bild, vor dem man sich bei Familienerzählungen so fürchtet: Es ist der Karton mit Büchern und Unterlagen des Großvaters, den der Enkel im Stammsitz der Familie hinter einem Vorhang hervorholt. Das allerdings bleibt das einzig Konventionelle an Leos bestechend klugem, nicht immer leicht, aber jederzeit mit Gewinn zu lesendem Buch.
Leo verwischt autobiografische Spuren gar nicht erst; es ist die Geschichte der Familie Leo, die er rekonstruiert, aber nicht in Form einer gefälligen (und verfilmbaren) chronologischen Reihung, sondern geordnet nach Themenkomplexen.
Im Zentrum steht ein ungleiches Brüderpaar. Da ist Martin, der Onkel des Erzähler-Vaters, ein Außenseiter, Freidenker und Feingeist, naturwissenschaftlich interessiert, offen, umweht (zumindest für Per, den Erzähler) von einer Unnahbarkeit, die auch ins Unheimliche umschlagen kann. Und dessen Bruder, der Großvater, Friedrich Leo. Ihn ausgerechnet, den Spross einer großbürgerlichen Familie aus Bremen-Vegesack, groß geworden auf einem Grundstück am Fluss, in unmittelbarer Nähe der Vulkanwerft, an der die Familie auch Geschäftsanteile hielt, zieht es nicht zum Wasser, zur Flut, sondern zum Boden, zur Scholle. Leo rekonstruiert Friedrichs Werdegang anhand unterschiedlicher Quellen und Dokumente und bleibt dabei immer ganz und gar Historiker. Er wertet nicht und urteilt nicht; er erlaubt sich gegenüber seinem Gegenstand, das hat er bei Ulrich Herbert gelernt, keinerlei Gefühligkeiten.
Friedrich Leo, der früh gemerkt hat, dass die nationalsozialistischen Organisationen eine gelungene Kompensation für intellektuelle Defizite sein können, wird rundum abgeklopft. Und er war durchaus kein Mitläufer, sondern Standartenführer im SS-Hauptamt. Seine Aufgabe ist es, unter anderem, die im Standardwerk „Rassenkunde Europas“ abgedruckten Bilder mit der Wirklichkeit abzugleichen. Per Leo beschreibt den Aufstieg seines Großvaters und konterkariert dessen Karriere mit den Aufzeichnungen seines Onkels Martin, der aufgrund seiner Morbus- Bechterew-Erkrankung im Frühjahr 1938 von den Nazis zwangssterilisiert wurde und kurz nach der Wende in einem Altersheim in Dresden starb, während Friedrich auch in der Nachkriegszeit stets die dominante Figur blieb.
„Flut und Boden“ ist ein Roman der unorthodoxen Denkbewegungen. Die glänzendste, weil in ihrer Radikalität einleuchtende, findet sich in einem Kapitel über den 1956 verstorbenen Psychologen und Grafologen Ludwig Klages (über den Per Leo im Übrigen seine Dissertationsschrift verfasst hat). Wie hier auf 35 Seiten das deutsche Bildungsbürgertum, die Grundlagen von Goethes Farbenlehre (Anschauung, nicht Erkenntnis), Klages grafologische Arbeit, die letztendlich in der Schrift nach Anzeichen von menschlichem Wert oder Unwert sucht und zu deren interessierten Lesern Heidegger, Jünger, Benn, aber auch Benjamin gehörten, und der Nationalsozialismus auf stilistisch brillante Weise in einen unbehaglich stimmenden Kontinuitätsfluss von Geistesgeschichte gebracht werden, ist grandios. Eine „Mischung aus Ressentiment und Feinsinn“, nennt Leo das. Darüber, dass jemand die Kiste mit den Familienaufzeichnungen hinter dem Vorhang hervorgeholt hat, war man als Leser seit langem nicht mehr so dankbar wie in diesem Fall.
Per Leo: Flut und Boden. Roman einer Familie. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2014, 350 Seiten, 21,95 €.
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