MEIN Europa (3): Güterverkehr der Ideen
Europa manifestiert sich an symbolischen Orten. Raoul Schrott steht am nördlichen Ufer des Mittelmeers.
Die Idee Europas ist ein positives Gegenmittel zu den nationalistischen Tendenzen, die es immer noch im Übermaß gibt. Man braucht ja nur die Nachrichten anzuschalten: Der größte Teil ist national, europäische Neuigkeiten machen höchstens zehn, zwanzig Prozent aus. Interessant an der Idee Europa ist auch ihre Paradoxie. Die nationalen Grenzen werden aufgelöst und in einer europäischen Einheit integriert – und gerade dadurch kommen die Minderheiten mehr zum Vorschein. Die Rätoromanen, die Kaschuben, die Ruthenen, all diese kleinen Völker mit eigenen Sprachen, die ja eigentlich die Keim- und Kernzelle von Kultur sind, erhalten dadurch mehr Freiheit.
Europa manifestiert sich in meinen Augen an zwei, drei symbolischen Orten. Der eine ist England: Auch Europa ist etwas Insulares, es ist kein Wunder, dass die frühesten zivilisatorischen Errungenschaften wie die Habeas-Corpus-Akte aus England stammen. Die beiden anderen sind Gibraltar und der Bosporus: Europa ist das nördliche Ufer des Mittelmeers. Seit Jahrtausenden sind die Kulturgüter um das Mittelmeer transportiert worden. Man braucht nur an die Antike zu denken, als aus dem assyrischen Raum, dem ägyptischen Raum sehr viele Menschen nach Norden wanderten. Wir schreiben arabische Zahlen, auch Worte wie Chemie oder Mathematik kommen aus dem Arabischen – die Ideen sind also permanent rund um das Mittelmeer gewandert.
Und das Europäische ist eben dessen Nordufer. Wobei die Schiffe am Gibraltar und am Bosporus nicht nur in beide Richtungen hin- und herfahren und die Landmassen, Europa und Afrika, Europa und Asien, miteinander verbinden, sondern auch in andere Meere weiterfahren. Das ist das Bild, das ich von Europa habe: dieser Schiffsverkehr, dieser Güterverkehr von Ideen.
Der Schriftsteller Raoul Schrott lebt in Irland. Zuletzt erschien von ihm „Homers Heimat. Der Kampf um Troia und seine realen Hintergründe“ (Hanser Verlag, München 2008). Dieser Text ist ein gekürzter Beitrag der Deutschlandfunk-Reihe „Mein Europa“ zu den Europawahlen. Zu hören täglich bis 5. Juni ab 9.10 Uhr sowie auf www.dradio.de.
Raoul Schrott
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