NS-Beutekunst: Gurlitt ist nur der Anfang
Das wirft ein schlechtes Licht auf den deutschen Staat: Im Umgang mit NS-Beutekunst handelt er zögerlich und ineffektiv. Sagt Anne Webber von der „Commission for Looted Art“ in London.
Die Welle der Empörung im Ausland über Deutschlands Umgang mit dem Schwabinger Kunstschatz war groß. „Gewissenlos“ nannte in einem Leitartikel die „Times“ die offizielle Geheimniskrämerei nach der Beschlagnahmung der 1406 Kunstwerke bei Cornelius Gurlitt. Inzwischen hat die Bundesregierung begriffen, dass Deutschlands Ruf auf dem Spiel steht, und das Heft in die Hand genommen. Eine Task Force mit Ingeborg Berggreen-Merkel als politischer Leiterin und dem Berliner Kunstwissenschaftler Uwe Hartmann als wissenschaftlichem Leiter wurde benannt. In dieser Woche sollen nun nach und nach Bilder und Details jener 590 Kunstwerke auf www.lostart.de veröffentlicht werden, die, so die Amtssprache, „NS-verfolgungsbedingt entzogen“ sein könnten. So können Erben von NS-Opfern in aller Welt im Internet suchen, ob Werke aus ihrer Familie dabei sind.
Aber die Skepsis bleibt, gelöst ist nichts. „Wir brauchen volle Veröffentlichung. Alle 1406 Werke der Gurlitt- Sammlung sind wichtig“, fordert Anne Webber vom Zentralregister für Raub- und Beutekunst in London. Für sie stellen sich Fragen über Fragen: Wie ist man auf die Zahl 590 gekommen? Was ist mit den 431 Werken – neben den als „entartete“ Kunst identifizierten –, über die man sich ausschweigt? Auch praktische Mängel moniert sie: Weil die Veröffentlichungen keine Suchfunktion haben, müssen Familien immer wieder die gesamten Listen durchforsten. Und warum nicht auf Englisch, wo doch die meisten Erben von NS-Opfern im Ausland leben?
„Deutschland muss es den Familien leichter machen.“ Webber klopft auf den Glastisch in ihrem Büro bei der Commission for Looted Art in Europe. Sie spricht von Hinhaltetaktik, Verschleppung und Geheimhaltung, nicht nur bei der Sammlung des Privatmannes Gurlitt, auch bei Deutschlands Museen. „Deutschland ist mit vielen Folgelasten der NS-Zeit sehr gut und effektiv umgegangen. Kunst gehört nicht dazu. Das ist die Achillesferse“.
Seit 15 Jahren versucht Webber in den düsteren Büroräumlichkeiten im altertümlichen Townhouse bei der Baker Street, Licht ins dunkelste Kapitel der europäischen Geschichte zu bringen. Man sieht es ihrer jugendlichen, von Gerechtigkeitssinn beflügelten Energie nicht an, aber sie ist eine Veteranin. Die Urmutter des Restitutionswesens. Sie und Kommissions-Mitbegründer David Lewis, Rechtsanwalt und Altmeistersammler, nahmen 1998 an der Washingtoner Konferenz teil, bei der sich 44 Länder auf elf Grundsätze im Umgang mit Raubkunst einigten – auch Deutschland. Lewis war Präsident der jüdischen Gemeinden in Europa, Webber hatte sich als BBC-Dokumentaristin und Vermittlerin mit dem Thema befasst. Die Kommission wurde nach der Konferenz als Nonprofit-Unternehmen gegründet, um NS-Geschädigte bei ihren Rückgabeforderungen mit Rat und Tat zu unterstützen.
Webbers Film „Making a Killing“ (1998) brachte den ersten, großen Streit um NS-Raubkunst an die Öffentlichkeit: Edgar Degas’ Landschaft „Paysage avec fumée de cheminées“ gehörte einst dem jüdischen Bankier Friedrich Gutmann, der das Bild in Paris vor den Kriegswirren retten wollte. Dort geriet es jedoch dem als NS-Kunsthändler berüchtigten Schweizer Hans Wendland in die Hände, es wurde weiterverkauft und gelangte in die USA. 1987 erwarb der Pharmaunternehmer Daniel Searle den Degas, der ihn einem Chicagoer Museum als Leihgabe überlassen wollte. Dabei entdeckten die Gutmann-Erben das Bild und forderten es zurück. Kurz vor dem Gerichtstermin schickte Webber dem Sammler ihren Film: Searle, der bis dahin nicht einsehen wollte, warum er das rechtmäßig erworbene Bild zurückgeben sollte, bat daraufhin bei ihr um Vermittlung. Der Fall wurde bei der Washingtoner Konferenz als vorbildlich präsentiert: „Alle waren davon überzeugt, dass ein Gericht nicht der richtige Ort ist für solche Konflikte“, erinnert sich Webber. Das Washingtoner Abkommen fordert denn auch „faire und gerechte“ Einzelfalllösungen.
Provenienzforschung ist internationale Kollektivarbeit.
Webber kritisiert, dass Deutschland 15 Jahre nach den Washingtoner Beschlüssen noch immer kein effektives, transparentes, konsistentes und unparteiisches Verfahren zur Regelung von Restitutionsansprüchen entwickelt hat. Auch bei der Sichtung der Museumsbestände nach möglicher NS-Raubkunst hinkt Deutschland anderen Ländern hinterher. Grundsatz 1 des Abkommens fordert die Identifizierung möglicher Beutekunst, Regel 2 verlangt Transparenz bei diesem Vorgang. Regierungen in Großbritannien, Österreich, den Niederlanden wiesen ihre Museen an, nach möglichen Beutefällen zu suchen. Als Erste veröffentlichten britische Museen bereits zwei Jahre nach Washington Listen aller Werke mit Provenienzlücken der Jahre 1939 bis 1945, hinter denen mögliche dubiose Transaktionen stecken könnten. Statt umfangreiche Recherchen abzuwarten, wurden die rohen Daten zur Verfügung gestellt.
Provenienzforschung ist internationale Kollektivarbeit. Keine Seite allein hat alle Informationen. Das gilt vor allem, wenn es um Informationen und Beweise geht, die nur die betroffenen Familien haben können.
In Deutschland gebe es bis heute keinen über Ländergrenzen hinweg konsistenten Prozess und noch weniger Transparenz bei dieser Sichtung der Bestände, klagt Webber. Ein Konvolut von über 30 Katalogen des auf NS-Zwangsversteigerungen spezialisierten Auktionshauses Adolf Weinmüller, Vorgänger des heutigen Auktionshauses Neumeister, wird im Münchner Zentralinstitut für Kunstgeschichte digitalisiert und transkribiert. Diese umfassen Auktionsprotokolle mit Namen von Familien sowie Details zu beschlagnahmten Kunstwerken, die veräußert wurden. Museen, Medien und Provenienzforschern aus Deutschland wurde der Zugang zu diesen Informationen ohne weitere Bedingungen gewährt. Für Anne Webber und andere Vertreter von früheren Eigentümern hingegen wurde bereits der Zugang zu einer Liste der in den Protokollen aufgeführten Vorbesitzer an die Bedingung geknüpft, dass vertrauliche juristische Dokumente bezüglich aller von Ihnen repräsentierten Familien übermittelt werden.
Bayerns Museen haben in der fraglichen Periode 5000 Werke angeschafft. Aber statt Listen aller Kunstwerke mit Provenienzlücken zu veröffentlichen und der internationalen Provenienzforschung Einsicht zu geben, werde unter Ausschluss der Betroffenen in unendlicher Langsamkeit geforscht – wie nach der Beschlagnahmung der Kunstschätze bei Cornelius Gurlitt, die ohne einen Hinweis an die Außenwelt von der Kunsthistorikerin Meike Hoffmann im stillen Kämmerlein geprüft wurden. „Ein paar Werke sind veröffentlicht bei lostart.de, aber man weiß nicht, welcher Teil der Sammlung überprüft wurde, welcher Prozentsatz der Sammlung bearbeitet ist, warum die publizierten Werke ausgewählt wurden, nach welchen Kriterien das Forschungsprojekt verläuft“, empört sich Webber. Als sie vor einigen Jahren den vormaligen Präsidenten des deutschen Museumsbundes auf die mangelnde Transparenz angesprochen habe, habe dieser erwidert: „Wir würden zu viele Rückgabeforderungen bekommen“.
Wenn dann ein Werk mit dubioser Vergangenheit identifiziert wird, sind es die Museen selbst, die über eine Restitutionsforderung entscheiden. Auch hier stehen sie in einem Interessenkonflikt. Kuratoren müssen ihre Sammlungen bewahren und sind keine Rechtsfachleute. Wieder vergleicht Webber die deutsche Situation mit Restitutionsprozessen in anderen Ländern. Großbritannien gründete 2000 ein „Spoliation Advisory Panel“ als unabhängige Schiedsstelle für Museen und Privatsammler. Ähnliches gibt es in den Niederlanden, auch Österreich trennt vorbildlich die „Kommission für Provenienzforschung“ von dem unabhängigen Beirat, der die Restitutionsentscheidungen trifft.
Die unter dem Namen ihrer Vorsitzenden Jutta Limbach bekannte „Beratende Kommission im Zusammenhang mit der Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogener Kulturgüter, insbesondere aus jüdischem Besitz“ – wieder bringt das hilflose Amtsdeutsch die innere Verklemmung der Organisationen zum Ausdruck – könnte eigentlich bei einer Regelung helfen, meint Webber. Aber in ihrer jetzigen Konstruktion sei die Limbach-Kommission nur eine Appellationsinstanz, nachdem Museen die erste Entscheidung getroffen haben.
Der Fall Gurlitt ist vielleicht gar nicht so außergewöhnlich.
Der Fall Gurlitt, so überraschend er in seiner Dimension sein mag, ist vielleicht gar nicht so außergewöhnlich. Glaubt man dem Kunstdetektiv und Beutekunstexperten Robert Edsel, werden in den nächsten Jahren Hunderttausende von Kunstwerken auftauchen, die im Krieg verschwanden. Er schrieb über die Arbeit der alliierten Kunstoffiziere nach dem Zweiten Weltkrieg das Buch „Monuments, Fine Arts, and Archives Program“. Im Februar kommt die Story unter dem Titel „The Monuments Men“ ins Kino, von und mit George Clooney.
Die „Beutegeneration“ und ihre direkten Kinder sterben aus. „Alles, was auf Dachböden, in den Kellern und an den Wänden ist, wird den Besitzer wechseln“, sagte Edsel über Kunst und Wertbesitz, der im Chaos des Zweiten Weltkriegs und der Judenverfolgung geraubt, geplündert, verscherbelt und verschoben wurde, um dann Jahrzehnte im Stillen zu verschwinden – wie im Fall Gurlitt. Im Film bemühen sich Clooney und Matt Damon als heroische Kunsthistoriker der ersten Stunde um die Beutekunst. 70 Jahre später ist die Sache komplizierter und noch unübersichtlicher geworden. Ist Deutschland institutionell und moralisch darauf eingestellt?
„Der Fall Gurlitt wirft ein Licht auf Deutschland“, sagt Anne Webber. „Die Menschen fragen sich, wie es möglich ist, dass diese Dinge nicht nach dem Krieg angepackt wurden, warum so viele NS-Händler ihre Kunst behalten durften, warum diese Werke nicht zurückgegeben wurden, warum so viele Werke nicht erforscht wurden, obwohl sich Deutschland vor 15 Jahren dazu verpflichtet hat. Sie fragen sich, wie es möglich ist, dass das Tempo der Restitution in Deutschland so langsam ist, wie es möglich ist, dass es keinen wirklichen Prozess für Rückforderungen ohne Interessenkonflikte gibt, wie es möglich ist, dass Provenienzforschung auf so intransparente Weise durchgeführt wird, warum Informationen nicht mitgeteilt werden.“
Anne Webber lobt die Anstrengungen, die Kulturstaatsminister Bernd Neumann unternommen hat, um mehr Schwung in die Sache zu bringen, unter anderem mit der Überarbeitung der „Handreichung“ zur Washingtoner Erklärung 2007 und einer Geldspritze für Provenienzforschung. Aber wirklich transparent und aktiv ist Deutschlands Umgang mit dieser Erblast deshalb nicht geworden. Dabei würde gerade das allen Beteiligten helfen, mahnt Webber. Oft enden Kompromisse und gütliche Vergleiche damit, dass die Werke in den Museen und Sammlungen bleiben. Aber je mehr Geld die Familien für Rechtsanwälte ausgeben müssen, je länger sich die Streitigkeiten hinziehen, je mehr Erben Ansprüche anmelden können, desto teurer wird es.