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Inszenierung ist alles. Boris Johnson wurde mit markigen Sprüchen und skurrilen Auftritten Regierungschef.
© Frank Augstein/dpa

Populismus, Brexit, Corona: „Großbritannien leidet an Infantilismus“

Der Londoner John Kampfner provoziert mit einem neuen Buch seine Landsleute. Sein Appell: Die Briten müssten von Deutschland lernen. Aber was? Ein Gespräch.

Den Kaffee serviert John Kampfner in einem Becher mit der britischen Nationalflagge Union Jack – als wolle der 57-Jährige verdeutlichen, dass er mit seinem Heimatland durchaus einverstanden ist.

Das Gespräch in seinem eleganten Stadthaus im Londoner Stadtteil Bloomsbury dreht sich dann aber überwiegend um Deutschland. Kampfner provoziert die Briten mit dem Titel seines neuen Buches: „The Germans do it better“, also „Die Deutschen machen's besser“, womit vor allem Politik und öffentliche Verwaltung gemeint sind.

[John Kampfner: Why the Germans Do it Better: Notes from a Grown-Up Country. Atlantic Books, London. 312 Seiten, 16,99 Pfund. atlantic-books.co.uk]

Aber er mahnt das Land in Europas Mitte auch: Auf euch kommt außenpolitisch größere Verantwortung zu, die nicht nur mit schönen Worten zu bewältigen ist. Der Sohn eines vor Hitler aus Bratislava geflohenen Juden und einer englischen Protestantin studierte in Oxford Geschichte und Russisch, war Auslandskorrespondent in Moskau, Bonn und im Berlin der Wendezeit 1989/90.

Für sein Buch hat er mehrere lange Deutschlandreisen gemacht und dabei „Notizen aus einem erwachsenen Land“, so der Untertitel, verfasst. Das Gespräch führte Sebastian Borger.

Mister Kampfner, Ihrem neuen Buch zufolge machen die Deutschen „es“ besser. Was denn? Und besser als wer?
Als ich Anfang 2019 anfing, mit Deutschen über meine These zu reden, war die Antwort generell: „Das können Sie nicht sagen“ oder „Das ist doch ein Witz“. Je länger ich das hörte, desto mehr erschien mir der Titel solide. Und dann kam die Corona-Pandemie.

Deutschland ist mit Dänemark und Österreich in einer Gruppe von Ländern, die relativ gut durch die aktuelle Krise kamen. Großbritannien gehört mit Frankreich, Belgien und Spanien zu jenen Ländern, wo es schlecht lief.
Die meisten Covid-Problemstaaten werden von Populisten geführt. Die drei klassischen Beispiele sind USA, Brasilien und Großbritannien.

Großbritannien hatte zuletzt viele Probleme: erst das Brexit-Durcheinander, dann die Corona-Kompetenzkrise.
Der EU-Austritt machte gesellschaftliche Schwächen, ja Traumata offenbar. Es war gewiss nicht unvermeidlich, aber sehr wahrscheinlich, dass wir mit diesem Premier und unserer generellen politischen Debatte Schwierigkeiten mit Corona haben würden.

Sie meinen den stets konfrontativen, nie auf Konsens bedachten Schlagabtausch, der ja schon beim Brexit auffiel.
Ich habe die deutsche Reaktion so wahrgenommen: zunächst Schock über das Ergebnis, gefolgt von Entgeisterung über die Folgen. Man konnte sich nicht vorstellen, dass nicht für beide möglichen Ergebnisse der Abstimmung detaillierte Pläne erarbeitet worden waren. Es hätte eine königliche Kommission über die Zukunft außerhalb der EU geben müssen. Das Ergebnis wäre gewiss nicht im Sinne der 48 Prozent gewesen, die wie ich in der EU bleiben wollten. Aber wir hätten immerhin das Durcheinander vermieden, in dem wir bis heute stecken.

Ihr Buch preist nicht nur den unaufgeregten Stil von Kanzlerin Angela Merkel. Sie behaupten auch, die Deutschen hätten generell eine bessere politische Kultur. Das hat Ihnen von Rezensenten den Vorwurf des „tiefsitzenden Kulturpessimismus“, ja des „Revanche-Pornos“ eingebracht.
Großbritannien leidet an einer Form von Infantilismus. Das wollen die von Johnson begeisterten Tories natürlich nicht hören. Wir haben wirklich genug brillante Kreativität in diesem Land, im Fernsehen, im Theater, in der Musik. Politiker sind nicht dazu da, mich zu bespaßen. Was uns fehlt, ist eine selbstkritische Herangehensweise an unsere Schwierigkeiten. Wir verfügen über eine großartige Geschichte, aber die Frage lautet doch: Hier liegt allerhand im Argen, wie ändern wir das?

Provokateur mit Klarsicht. Der Publizist John Kampfner.
Provokateur mit Klarsicht. Der Publizist John Kampfner.
© promo

Sie wollen den Briten sagen: Schaut euch doch mal genauer an, wie die Deutschen Politik machen, und lernt dabei ein bisschen was.
Gleichzeitig steckt das Buch voller Kritik an Deutschland. Möchten Sie Einzelheiten? Das Land ist digital auf armseligem Stand; nicht innovativ genug; die Wirtschaft ist zu stark vom Export abhängig, zumal von China, was die deutsche Außenpolitik behindert; die wackelige Haltung gegenüber Russland finde ich schlimm. Auf der persönlichen Ebene gehen mir die vielfältigen Regeln wahnsinnig auf die Nerven.

Eines Morgens klebte ein Zettel an Ihrem Auto: „Sehr geehrter Nachbar, bitte putzen Sie Ihr Auto, es bringt die Straße in Verruf“.
Das war in den achtziger Jahren in Bonn. Aber bis heute muss man auch morgens um 4 Uhr an der roten Ampel stehen, weit und breit kein Auto! Also, das Buch ist gewiss keine Hagiografie.

Sie richten zwei Aufforderungen an das Land in der Mitte Europas: Nehmt doch mal zur Kenntnis, was bei euch gut läuft. Und: Ihr müsst euch außenpolitisch stärker engagieren.
Ich sage ausdrücklich nicht: Vergesst die Vergangenheit, denkt an die Zukunft. Eher im Gegenteil. Weil die Deutschen sich bis heute kritisch mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen, sehe ich die politische Debatte dort so positiv. Meine Bitte lautet also: Nutzen Sie Ihren Umgang mit der Vergangenheit, um sich der Zukunft zuzuwenden. Und da muss sich manches ändern.

Was meinen Sie?
Europa steht zwischen den USA und China, und Deutschland ist die Mitte Europas. Hinzu kommt der Rückzug Großbritanniens. Der ist für Deutschland besonders problematisch, weil die beiden Länder sich außenpolitisch bei vielen Themen sehr nahe sind. Dadurch ist Deutschland sehr exponiert. Ich vergleiche das mit einem Schiff, das in zunehmend schwere See gerät.

Den Deutschen ist das Festland vertrauter.
Sie möchten festen Boden unter den Füßen haben und von anderen beschützt werden. Aber das ist nun vorbei. Eine schwierige Situation, ohne Zweifel. Alles, was zu Deutschlands Selbstbewusstsein beiträgt, die liberale Demokratie, die Menschenrechte, die multipolare Weltpolitik – all das ist bedroht.

Die normalerweise in Großbritannien bespöttelte „German Angst“ hat also ihre Berechtigung.
So ist es. Aber verstecken hilft nichts. Ich halte überhaupt nichts davon, sich in die Nationalflagge einzuwickeln. Sondern Deutschland muss bei schwierigen globalen Problemen gemeinsam mit anderen mehr Führungsstärke zeigen, deutlich konfrontativer auftreten gegenüber autoritären Regimen wie Russland und China. Wir können entweder die weiße Fahne hissen oder klarer und klüger unsere Position verdeutlichen. Gelegentlich mag dazu Militär nötig sein. Oder es sind Wirtschaftssanktionen, Ausgrenzungen, Visabeschränkungen – es gibt ja unterschiedliche Methoden, unsere westlichen liberalen Werte zu verteidigen.

Wie wird sich Großbritannien dabei positionieren?
Leider bin ich kurzfristig sehr pessimistisch, was die britische Politik angeht. Wir haben einen Clown zum Premierminister gemacht. Mit Boris Johnson werden wir die dringend nötige Seriosität in der Politik nicht erleben.

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