Salafisten in Deutschland: Gottlose Radikalität
Im Interview spricht der französische Politikwissenschaftler Olivier Roy über Salafismus und die Angst der Deutschen vor sich selbst.
Besonders unter jungen Muslimen versuchen Salafisten in Deutschland Fuß zu fassen. Was macht ihre Lehre eigentlich so attraktiv?
Zunächst bietet der Salafismus muslimischen Jugendlichen und Konvertiten ein Islamverständnis an, das aus ihrer Dekulturalisierung etwas Positives macht. Der Salafismus ist in keiner Weise eine Ausprägung des traditionellen Islam, denn er lehnt das Konzept einer ‚muslimischen Kultur’ ab und verwandelt die Religion in ein detailliertes Regelwerk, in der nur Erlaubtes (halal) und Verbotenes (haram) existiert. Es ist eine Geisteshaltung, die besonders in der zweiten Generation der Migranten zu finden ist, die sowohl die dominante westliche Kultur wie die Kultur ihrer Eltern ablehnt. Dasselbe gilt für die Konvertiten. Konvertieren bedeutet auch hier den Bruch mit den Eltern, aber diese Konvertiten werden nicht zu Türken oder Arabern, sondern genießen die kulturüberwindende Haltung, die ihnen der Salafismus anbietet.
Nicht alle Salafisten wenden sich dem Dschihadismus zu.
Aber wenn sie es tun, können wir dieses Phänomen mit der Rote Armee Fraktion vergleichen. Die RAF war ebenfalls das Phänomen einer Generation, die ihre Eltern als Faschisten bezeichnete oder als Menschen, die ihre Seele dem Konsum opferten. Der Fehler, der gerade in Europa gemacht wird, ist, dass man im Salafismus eine Art Kampf der Kulturen statt eine eigenartige Radikalisierung einer westlichen oder verwestlichten Jugend. Dieses Missverständnis rührt daher, dass Europa die Rolle der Konvertiten einfach nicht versteht.
Auf der einen Seite lehnt die überwiegende Mehrheit der Muslime in Deutschland den Salafismus ab. Andererseits wird oft beklagt, dass die Muslime sich in der Öffentlichkeit nicht klar genug positionieren. Was können die muslimischen Gemeinden gegen solche ideologischen Gruppen machen?
Man muss erst einmal sagen, dass es die muslimische Gemeinschaft nicht gibt, sondern nur eine muslimische Bevölkerung. Das konnte man während der Debatten um das Beschneidungsverbot klar erkennen. Keine muslimische Autorität hat sich dabei in den Vordergrund begeben, es war die jüdische Gemeinde, die die Beschneidung öffentlich verteidigt hat. Das Paradoxe an den westlichen Regierungen ist, dass sie sowohl Angst davor haben, es mit einer einheitlichen muslimischen Gemeinschaft zu tun haben, die ihre Rechte einfordert, als auch den Wunsch, Vertreter der muslimischen Gemeinschaft zu finden, die man jederzeit zu Hilfe rufen kann.
Medien und Politiker warnen immer wieder vor der Gefahr, die von salafistischen Gruppen ausgeht. Dabei sprechen die Sicherheitsorgane nur von etwa 6000 Salafisten. In Deutschland leben aber rund vier Millionen Muslime. Wie beurteilen Sie die reale Bedrohung?
Ich möchte das wieder mit der RAF vergleichen. Menschen aus meiner Generation erinnern sich noch an die Panik der deutschen Behörden, die damals mit einigen hundert radikalen Linken, die keinerlei Unterstützung in der Arbeiterklasse genossen, konfrontiert wurden. Auch die jetzige Panik ist mehr ein Ausdruck der Angst der deutschen Gesellschaft vor sich selber und der eigenen Zukunft, als ein Spiegel der wahren Kräfteverhältnisse. Die meisten deutschen Muslime lehnen den Salafismus ab, weil sie liberaler sind, manchmal aber auch, weil sie konservativ sind und diese Bewegung als Innovation beziehungsweise Reformation ablehnen.
Wissenschaftler und Politiker diskutieren über Präventionsprogramme. Auch Muslime wollen ihren Beitrag dazu leisten. Wie könnte eine effektive Strategie aussehen?
Sie werden nie eine sich ohnmächtig fühlende Jugend davor schützen können, in den Radikalismus abzudriften. Sie einen moderaten Islam lehren zu wollen, ist aus zwei Gründen absurd. Erstens lehnen diese jungen Menschen ihre Eltern und die traditionellen Imame und Gelehrten ab, also werden sie ihnen erst gar nicht zuhören. Zweitens suchen sie nach politisch radikalen Aktionen. Sie kommen nicht aus religiösen Bedürfnissen zum Salafismus, sie scheren sich nicht um Theologie, sie suchen eine Brüderlichkeit, die sie von der umgebenden Gesellschaft abschottet. Außerdem bietet der Salafismus ihnen das Abenteuer des Dschihad.
Kann das gut ausgehen?
Viele Dschihadisten werden so enden wie die RAF-Leute: tot, hoffnungslos oder Reue bekundend, weil einige von ihnen die Dummheit und tragischen Konsequenzen ihres Traumes erkennen werden. Heute bin ich gut befreundet mit einigen ehemaligen arabischen Dschihadisten, die in den 80er Jahren nach Afghanistan gingen. Damals war auch ich dort, und man brachte Menschen wie mich um. Ich habe mich nicht verändert, aber sie haben ihre Lehren aus den zahlreichen Bürgerkriegen gezogen, in denen sich Muslime untereinander bekriegten. Gestern Afghanistan, heute Syrien.
Trotzdem dominiert beim Versuch, die islamische Theologie in Deutschland offiziell zu verankern, augenblicklich die Meinung, dass Muslime ihre Religion reformieren müssten. Einige Politiker bringen auch unmissverständlich zum Ausdruck, dass man liberale Muslime unterstützen müsste, um radikalen Muslimen entgegenzuwirken. Halten Sie das für sinnvoll?
Radikalisierung ist keine theologische Angelegenheit. Sie müssen auch kein liberaler Muslim sein, um ein guter Staatsbürger zu sein. Wir haben viele konservative Katholiken, Protestanten und Juden, die alle gute Staatsbürger sind. Die Salafisten, die sich etwa in Ägypten den Säkularisten und der Armee angeschlossen haben, um gemeinsam die Muslimbrüder zu bekämpfen, sind in religiöser Hinsicht keineswegs liberal geworden. Darüber hinaus sind viele liberale Säkularisten in Ägypten und Tunesien nicht alle Demokraten. Sie wollen nur die Religion aus dem öffentlichen Raum verbannen, was übrigens auch in Frankreich passiert. Leute, die Ausschau nach einem muslimischen Martin Luther halten, haben nie Luther gelesen. Sie wären entsetzt, wenn sie es tun würden. Und Papst Franziskus ist auch kein liberaler Katholik. Er ist in theologischer Hinsicht so konservativ wie Papst Benedikt. Er hat eine liberale Haltung gegenüber der Gesellschaft, aber er denkt nicht liberal.
Was bedeutet das für unser Verständnis von Religion?
Wir sollten aufhören, Theologie, Religiosität und politische Standpunkte miteinander zu vermischen. Wenn wir von den Muslimen fordern, dass sie Religion von Politik trennen, sollten wir sie nicht gleichzeitig zwingen, eine neue, politisch akzeptable Theologie erfinden.
Das Gespräch führte Eren Güvercin.
Olivier Roy ist Professor am Robert Schuman Zentrum in Florenz. Auf Deutsch erschien bei Siedler zuletzt „Heilige Einfalt – Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen“
Eren Güvercin