Stevie Wonder: Gott der Wunderkisten
Soul als Antidepressivum: Stevie Wonder gibt in Berlin ein ekstatisches Konzert. Der Futurismus von damals klingt immer noch außerirdisch.
Heißer als heiß, hotter than July? Am Einlass fächeln sich die in einer Riesenschlange eingekeilten Fans mit ihren Eintrittskarten Luft zu, doch jenseits des Festungsgrabens, im Innenhof der Spandauer Zitadelle weht ein laues Lüftchen durch die Kastanien und den Efeu, der sich an mittelalterlichen Wänden hochrankt. Fast siebentausend Menschen haben sich am Ende in der nicht ganz ausverkauften Open-Air-Arena versammelt, einige lagern sogar mit Handtüchern auf dem Kies vor der Bühne. Sie warten. Und warten. Als der Weltstar, der ihnen versprochen wurde, nach anderthalb Stunden noch immer nicht erschienen ist, wird der Hitmix aus den Lautsprechertürmen von Pfiffen und Buhrufen übertönt. Vom Band kommen nun seltsam verzerrte E-Gitarrenakkorde. Könnte Hendrix sein. Oder Santana.
Ist aber – Tärä und Tusch! – Stevie Wonder. Auf der Rückseite der Bühne öffnet sich ein Vorhang und heraus tritt – ein grandioser Deus-ex-Machina-Effekt – der Urheber dieser merkwürdigen Geräusche. Um den Hals trägt er ein weißes Hängekeyboard mit Gitarrenhals, ein vor dreißig Jahren beliebtes Instrument, das inzwischen unter schwerem Poser-Verdacht steht. Sich wiegend, tänzelnd, lachend und musizierend arbeitet sich Wonder zum Standmikrofon an der Rampe vor, singt „I don’t cry, I don’t cry no more“, und das Publikum antwortet ihm entzückt: „I don’t cry no more.“ Dann geht er in die Knie, legt sich auf den Rücken und lässt, die Tastatur abwechselnd mit zehn Fingern und einer Faust bearbeitend – die irrwitzigsten synthetischen Gitarrenklänge hinausströmen in den schon bläulich dämmernden Abend.
Die Kopf-hoch-Ballade „My Eyes Don’t Cry“ stammt von dem 1987 erschienenen Album „Characters“. Damals war Stevie Wonder bei einem mäßig besuchten Waldbühnen-Konzert zum bislang letzten Mal in Berlin aufgetreten, und die dem Kitsch oft nahe Musik aus dieser Ära gilt nicht als seine beste. Doch im Spandauer Sommeridyll wird aus dem Song über einen „lonely no one“, einen Verlassenen, der im Liebesschmerz neue Kraft zu sammeln versucht, eine lautstark mitgesungene Hymne auf die Lebenslust.
„My heart don’t ache no more / I don’t have no longer to be blue“, schmachtet Wonder. Keine Trauer, keine Tränen mehr. Gleich hinterher schickt der Sänger seinen Hit „Master Blaster“, ein funky blubberndes Loblied auf die Kraft der Musik in Zeiten der Krise, in das er eine Eloge auf den schwarzen Präsidenten Barack Obama einbaut. Danach: eine Coverversion des Beatles-Klassikers „We Can Work It Out“. Kriege, Rezession, die Ölpest? Gemeinsam schaffen wir es da raus. Wer ein Stevie-Wonder-Konzert besucht, der kann getrost alle Sorgen fahren lassen.
Happy? „I can say that I’m ecstatic“, versichert der Entertainer in „Master Blaster“. Der Abend endet tatsächlich beinahe in der Ekstase, er ist ein einziges, zweieinviertelstündiges Antidepressivum. Das liegt nicht nur an Wonder selbst, der seine immense Musikalität wie beiläufig an zwei Keyboards, einem Flügel und natürlich der Mundharmonika demonstriert, mühelos vom samtigen Säuseln zu jazzigem Scat-Gesang wechselt und nebenher noch bei einer Ballade mit der auf der Klavierbank ganz nah heranrückenden Duettpartnerin flirtet („I can see you“). Es liegt auch an seiner neunköpfigen, in bonbonbunten Polohemden gekleideten Band und dem dreiköpfigen Begleitchor, die ihren Job so kunstvoll wie lässig erledigen.
Die Band führt Wonder meist an der kurzen Leine, nur gelegentlich gewährt er seinen drei (!) Schlagzeugern und Percussionisten einen solistischen Auslauf, Trompeter und Saxofonist dürfen sich mitunter mit gestochen scharfen Bläsersätzen duellieren, und der Bassist umrahmt die himmelhochjauchzende Ballade „Overjoyed“ mit hübschen Ornamenten. Währenddessen setzen die beiden Sängerinnen und der Sänger ihre „Aaahs“, „Ooohs“ und „HuHuus“ zu den Gesangsbögen des Meisters und vollführen am Bühnenrand Synchrontanzschritte, die an legendäre Vokalformationen wie die Ikettes, die Shangri-Las oder die Raelettes erinnern.
Mit Ray Charles, dem Chef der Raelettes, ist Stevie Wonder oft verglichen worden. Beide gelten als blinde Visionäre, doch während der Soul-Erfinder Charles in seinen Songs mit dem Wort „Liebe“ meistens Sex umschrieb, meint der SoulErneuerer Wonder damit eine noch größere Verschmelzung: Alle Menschen werden Brüder. An den Hippie-Idealen hält der inzwischen 60-jährige Musiker, der seine Haare zu schulterlangen Rastazöpfen geflochten hat, bis heute fest. Sein 2005 herausgekommenes Comebackalbum trug den programmatischen Titel „A Time To Love“.
Stevie Wonder war immer schon beides, Aktivist und Avantgardist. Mit den Alben von „Music Of My Mind“ (1972) bis „Songs In The Key Of Life“ (1976) gelangen ihm nacheinander fünf Pop-Meilensteine, bei denen er mit den neuen Möglichkeiten von Soundwunderkisten wie dem Moog-Synthesizer oder der Dream Machine von Yamaha experimentierte.
Der Futurismus von damals wirkt heute immer noch extraterrestrisch, das beweist der Sänger in Spandau mit dem düster wabernden Ghettoblues „Living For The City“, einer politischen Bestandsaufnahme in der Tradition von Marvin Gayes Anti-Vietnam-Platte „What’s Going On?“. Das Gegenstück dazu bildet der weltliche Gospel „Free“, zu dem ein fünfzehnköpfiger Zusatzchor auf die Bühne stöckelt und mit Wonder in Call-und-Response-Gesängen irdische Glücksversprechen austauscht: „Free from pain / from hunger / from hate“.
„Do you want song-traveling?“, fragt der Sänger das Publikum und nimmt es mit auf eine Zeitreise. Er spielt einen Retroblock aus „Uptight“, „Signed, Sealed & Delivered“, „Yester-Me, Yester-You, Yesterday“ und klingt bei „Fingertips“ dank eines Zaubertranks auf einmal wieder wie das zwölfjährige Wunderkind, das von Motown-Boss Berry Gordy entdeckt worden war. Zu „Isn’t She Lovely?“ holt er seine Tochter Sophia auf die Bühne, die Geburtstag hat und angesichts der väterlichen Lobhudeleien verlegen auf den Boden blickt. Inzwischen hat sich die Nacht über die Zitadelle gesenkt, und nur noch die in Tegel aufsteigenden Flugzeuge malen Lichtstreifen in den Himmel. Als dann der unvermeidliche Überhit „I Just Called to Say I Love You“ erklingt, werden unzählige Handys hochgereckt, auf dass die Liebesbotschaft hinausgehe in die Mobilnetze.
Zum Schlussbild drängeln sich wie früher bei einer Samstagabendshow im Fernsehen alle Akteure auf der Bühne. Star, Band, Zusatzchor, Zusatzpercussionisten und Entourage singen „Happy Birthday“, Stevie Wonders Hymne auf Martin Luther King. Die letzten Worte des Sängers in dieser Nacht lauten: „God bless you.“
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