Zum Tod von Stéphane Hessel: Glück im Widerstand
Er war ein kühner Träumer der Tat, ein Weltbürger, der die UN-Menschenrechtscharta mitverfasst hat - und gebürtiger Berliner. Jetzt ist Stéphane Hessel mit 95 Jahren in Paris gestorben.
„Warten Sie, ich zeige Ihnen etwas“, sagte Stéphane Hessel, und sprang ganz behänd aus seinem Lieblingsohrensessel. Es war im Sommer 2010, als wir uns in Paris in Hessels bescheidener Dreizimmerwohnung unweit des Friedhofs Montparnasse, wo Sartre, Beckett und auch seine Mutter begraben sind, getroffen haben. Es war um einen historischen Wimpernschlag vor seinem späten Weltruhm.
Davon ahnte da keiner etwas, schon gar nicht er selbst, der wenige Wochen darauf mit eben 93 Jahren in einem Kleinverlag im südfranzösischen Montpellier den Aufruf „Indignez-vous!“ („Empört euch!“) veröffentlichen würde. Auf nur 14 Druckseiten plus Anmerkungen und einem Nachwort der befreundeten Verlegerin Sylvie Crossman war das buchstäblich eine Flugschrift. Nach Büchner: „Friede den Hütten, Krieg den Palästen.“ Eine hauchdünne Broschur, die sich mit ihrem Widerstandsappell gegen ungebremsten Finanzkapitalismus, Ausbeutung von Armen und Umweltzerstörung in Sturmwindesweile und in alle Weltsprachen übersetzt millionenfach um den Globus verbreitete.
Damals, bei ihm zu Hause in der Rue Antoine Chantin im gutbürgerlichen 14. Pariser Arrondissement, erwähnte er seinen noch ungedruckten kleinen Aufsatz nur mit einem Nebensatz, als Zwischenruf im Konzert seiner Aktivitäten, vor allem für diverse internationale Nicht-Regierungsorganisationen. Stattdessen holte er von seinem Schreibtisch eine Art Minizeitung, schwarzweiß, wild umbrochen wie eine studentische Publikation. Ein Trick.
Mit seinem Lachen, das immer ein Lächeln war, changierend zwischen einem spitzbübischen Grinsen und grandseigneuraler Heiterkeit, präsentierte Stéphane Hessel die Jubiläumsnummer 50 des Magazins „Point d’Ironie“. Auf diesem „Gipfel der Ironie“ waren vor ihm bereits Yoko Ono, der Philosoph Michel Foucault oder der britische Kunsthai Damien Hirst gewürdigt worden.
Die Mäzenatin und Modeschöpferin Agnès Troublé alias agnes b. hatte diese 50. Ausgabe dem Leben und Wirken Hessels gewidmet – in 500 000 Auflage, ausliegend in allen Läden von agnes b., was Hessel damals wie unglaublich erschien. Ein Gipfel der Ironie, aber immerhin schmeichelhaft. Auf das Titelbild hatte der belgische Illustrator Pascal Lemaitre, der sonst für den „New Yorker“ oder das „Time“-Magazin arbeitet, die Figurine von Hessel gezeichnet. Sie steht und schwebt auf einem hohen Felsen direkt über dem Abgrund – ein Sisyphos-Prometheus-Männchen, das vor dem Fall nur der in schwarzer Tinte vor Hessels Nase gesetzte Titel-Schriftzug bewahrt: „La violante espérance de Stéphane“.
Diese „gewaltige Hoffnung“ hat Hessel tatsächlich durch ein Jahrhundert Leben und Überleben getragen. In Berlin-Tiergarten wurde Stefan Friedrich Kaspar Hessel 1917 geboren, als Sohn des Schriftstellers, Rowohlt-Lektors und Flaneurs Franz Hessel („Spazieren in Berlin“) und der Malerin und späteren Modejournalistin Helen Grund. In Berlin und in Paris, wohin es seine Eltern immer wieder zog, wuchs Stefan auf in einem Haushalt, in dem Alfred Polgar, Walter Benjamin, Picasso, Marcel Duchamps oder Max Ernst verkehrten. Und bevor er selber weltberühmt wurde, waren es schon mal seine Eltern.
Freilich nur seine Mutter, die der Sohn mehr liebte als den spröderen, scheuen Vater und die ihm den Wunsch „Sei glücklich!“ als Lebensbefehl auf den Weg gab, nur sie hat jenen wunderlichen Ruhm noch erlebt. Franz Hessel, von den Nazis als Jude und Literat im Genre der verbrannten Bücher verfolgt, starb kurz nach einer Internierung 1941 in Südfrankreich. Zwei Jahrzehnte später drehte dann Franlois Truffaut seine große Kinoromanze „Jules und Jim“, in der Jeanne Moreau und Oskar Werner ein Paar spielten, das vor und nach dem 1. Weltkrieg in einer Menage-à-trois mit einem französischen Freund lebt. Im realen Leben war es die Geschichte von Helen und Franz Hessel sowie dem Pariser Autor Henri-Pierre Roché, ihrem amourösen Freund.
Er erhob entschieden seine Stimme gegen Menschenrechtsverletzungen
Darauf ist Stefan, der als junger Emigrant und dann französischer Staatsbürger zu Stéphane wurde, immer wieder angesprochen worden. Er, der doch selber längst eine eigene und weit dramatischere Biographie hatte. Im 2. Weltkrieg war er in der Résistance, begegnete de Gaulle in London, der ihn im Auftrag der französischen Exilregierung als Kurier zurück nach Frankreich sandte, wo er im Juli 1944, nicht weit von seiner späteren Wohnung, in einem Café von der Gestapo verhaftet wurde. Nach 29 Tagen Folterverhören hatte er das Glück im Unglück, dass er während der Verwirrung rund um das Attentat auf Hitler vom 20. Juli ’44 der sonst üblichen Erschießung entging. So wurde Hessel nach Deutschland deportiert. Auch das KZ Buchenwald und das Lager Dora im Harz, wo todgeweihte Sklaven unter Tage für Albert Speer und Wernher von Braun die „V2“ als letzte Wunderwaffe der Nazis bauen mussten, überlebte er nur durch einen tragischen Coup. Schon zur Exekution bestimmt, tauschte er mit Hilfe von Eugen Kogon, der nach 1945 das Schlüsselwerk „Der SS-Staat“ schrieb, die Identität mit einem anderen, gerade an Typhus gestorbenen Häftling und entkam.
Nach dem Krieg trat Stéphane Hessel in den diplomatischen Dienst, blieb halb durch Zufall, auf dem Weg eigentlich zu einem Posten in Indochina, in New York hängen und wurde als Mitglied der französischen UN-Mission in ein Redaktionskomitee delegiert, das die neue Menschenrechtscharta verfassen sollte. So hat Hessel in New York und Genf an der 1948 verabschiedeten Gründungsurkunde einer erhofften neuen, besseren Welt mitgewirkt. Unter den UN-Diplomaten war er der Ausnahmefall, der Terror und Tortur am eigenen Leib erlebt hatte.
Diese Aura der Erfahrung hatte immer ausgestrahlt, und dabei war Hessel auch in Anzug und Schlips nie der offizielle Würdenträger („Ambassadeur de France“, sein Titel auf Lebenszeit). Sondern der Wertekämpfer, der zeitlebens ein kühner, im Kopf wunderbar jung gebliebener Träumer der Tat blieb. Ein großer Menschenfreund, der gegen Menschenrechtsverletzungen seine Stimme erhob, zuletzt sehr entschieden gegen die Regierung Netanjahu und die israelische Besatzungspolitik gegenüber den Palästinensern. „Wir waren 1948 so glühend für die Gründung des Staates Israel und sein Existenzrecht verteidige ich bis heute. Aber wir hatten damals in der UN völlig übersehen“, sagte er noch zuletzt, „dass es dort in Palästina auch ein zweites Volk mit eigenen Menschenrechten gab.“
Hessel erzählte, dass ihn in der Nazihaft ein Shakespeare-Sonett und überhaupt Gedichte vor der Verzweiflung und dem Selbstmord bewahrt hätten. Sein schönstes Buch heißt darum „Ô ma mémoire – Gedichte, die mir unentbehrlich sind“. Darin hat er 88 Poeme der Weltliteratur, die er auf Englisch, Französisch und Deutsch bis zuletzt mit unfasslichem Gedächtnis alle auswendig rezitieren konnte, gesammelt und als passionierter Liebhaber kommentiert. Es ist im Spiegel der Lyrik seine inständigste Biographie.
Vor dem Tod, sagte er, habe er keine Angst. „Warum? Die Dichter nennen es den zweiten Schlaf. Der erste war vor meiner Geburt, und der nächste wird meine fernste, abenteuerlichste Reise sein, auf die ich mich freuen kann.“ Stéphane Hessel hat sie, 95 Jahre alt geworden, in der Nacht zum Mittwoch in Paris begonnen.
Peter von Becker
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